Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Jahre später, in den Territorien im Westen des Ozeans in Erscheinung zu treten. Jahrhundertelang hatten die Menschen große Angst vor dem Ozean, auch deswegen, weil sie annahmen, dass er der äußere Rand der damals bekannten Welt und die Heimat von grässlichen Ungeheuern sei. Nur zaghaft wagten sie sich auf ihn hinaus, bis sie schließlich den Mut fassten, ihn zu überqueren, von Osten nach Westen. Das geschah im 11. Jahrhundert, und es brachte die Erkenntnis, dass die Welt keineswegs hinter dem Atlantik zu Ende war: Der Ozean stellte jetzt die Brücke zu einer ganz neuen Welt dar.
Es dauerte weitere vier Jahrhunderte, bis man diese neue Welt wirklich »entdeckte« beziehungsweise erkannte, dass es sich tatsächlich um eine solche handelte. Doch nachdem dies zu einer Gewissheit, zu einem eindeutigen und nicht zu leugnenden Faktum geworden und man sich bewusst war, dass die gerade überquerte Wasserfläche einen Ozean darstellte, wurde dieses riesige, im Norden dreitausend, im Süden viertausend und an seiner schmalsten Stelle, zwischen Brasilien und Afrika, einiges weniger als zweitausend Meilen breite Gewässer die Hauptbühne für beeindruckende Unternehmungen und verblüffende Taten des Menschen.
In einem gewissen Sinn wurde dieser Ozean zur Wiege der modernen westlichen Zivilisation. Die Menschheit verdankte ihm die Mosaiksteinchen, die zusammen die Grundlage für ihren Fortschritt bildeten. Alle möglichen Entdeckungen und Erfindungen wurden an oder auf ihm oder auch aufgrund einer indirekten Verbindung mit ihm gemacht; ihm schuldete man wesentliche Einblicke, Erkenntnisse und Ideen: die parlamentarische Demokratie; ein Heimatland für die auf der Welt verstreuten Juden; Funkverbindungen über große Entfernungen; die Vinland-Karte; die Abschaffung der Sklaverei; die Entdeckung der Kontinentaldrift und der Plattentektonik; die Atlantik-Charta; das Britische Empire; die knorr , das curragh , die Galeone, das Panzerschiff und das Schlachtschiff; die Einteilung der Welt in Längengrade; Kabeljau; Erskine Childers; Winslow Homer; das Geleitzugsystem; Sankt Helena; Puerto Madryn; Debussy; Monet; Rachel Carson; Eriksson; Kolumbus und Vespucci; die Hanse; Ernest Shackleton; die Black Ball Line; das unterseeische Telegrafenkabel; die Brüder Wright, Alcock, Brown, Lindbergh und Beryl Markham; das Unterseeboot; Ellis Island; Hurrikans; Atlantic Creek; Eisberge; die Titanic, die Lusitania und die Torrey Canyon ; das Eddystone-Leuchtfeuer; Bathybius ; Prochlorococcus ; Container; die NATO; Polder; die grönländische Eiskappe; das United Kingdom; Brasilien; Argentinien; Kanada; die USA.
All das und tausend weitere Dinge, Menschen und Tiere, Ereignisse und Geschehnisse machen den heutigen Atlantik aus. Sie fungieren als Erinnerung an die ungeheure Komplexität eines Ozeans, der für die Geschichte der Menschheit von zentraler Bedeutung gewesen ist. Sie werden jetzt alle in Zusammenhang mit einem neuen Fach untersucht und studiert, das sich »Atlantische Geschichte« nennt und schon an vielen Institutionen unterrichtet wird. Es wird so ernst genommen, dass man nun die Geschichte seiner selbst untersucht, die Geschichte einer Geschichte : Solche Bedeutung hat die Vorstellung von einer spezifisch atlantischen Identität für die zeitgenössische und die zukünftige Welt erhalten.
Da das vorliegende Buch sich aber weniger an jene richtet, für die die See mehr ein abstraktes Konzept ist als eine wunderbare bunte Mischung aus Wasser, Wellen und Wind, Fischen, Säugetieren und Vögeln, Schiffen und Menschen, möchte ich noch eine letzte Geschichte erzählen. Es ist die Geschichte von einem in Vergessenheit geratenen Mann und seinem verzweifelten Kampf mit dem Meer – einem Kampf, bei dem das Meer, wie immer, am Ende den Sieg davontrug. Es kommen ein Schiffbruch, eine Rettung und ein einsamer Tod darin vor.
Diese Geschichte fand ich in einem Buch, das ich vor langer Zeit einmal las, und zwar in einer solch kalten und ungeheuer wilden Nacht, in der man voller Mitgefühl an die Seeleute »draußen auf See« denkt. Ich hielt mich damals auf einer gottverlassenen Estancia in Südpatagonien auf und hatte es mir vor einem Kaminfeuer gemütlich gemacht. In der einen Hand einen Whisky-Toddy, in der anderen ein Buch, las ich im matten Licht der Leselampe eine außergewöhnliche Geschichte von Untergang und Verderben, die sich ein halbes Jahrhundert zuvor auf der anderen Seite des Atlantiks zugetragen hatte.
Es war die Geschichte
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