Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
die Darstellung eines Kamels noch die eines Minaretts, und auf ihr ist auch kein Tuareg in seiner typischen dunkelblauen Kleidung zu sehen, sondern das Haus einer sehr großen Schnecke. Diese schützende Hülle eines an den Küsten lebenden, fleischfressenden Meerestiers, das seine raue Zunge benutzt, um Löcher in die Gehäuse und Schalen anderer Lebewesen zu raspeln und die Köstlichkeiten, die es in ihrem Inneren entdeckt, herauszuschlürfen, ist rötlich blau, schmal und mit dornenähnlichen Auswüchsen besetzt; sie läuft in einer langgezogenen Spitze aus und besitzt eine an ein menschliches Ohr erinnernde Öffnung. Sie ist in jeder Beziehung schön: die Art von Schneckenhaus, das keiner, der das Glück hat, eines zu finden, gedankenlos wieder fortwirft.
Es waren aber nicht die eleganten geschwungenen Linien des Schneckenhauses, die die Direktoren der marokkanischen Zentralbank in Rabat vor vielen Jahren bewogen, eine Abbildung davon auf die Rückseite der von der Bank ausgegebenen Zweihundert-Dirham-Scheine zu setzen. Man wählte dieses Motiv aus einem anderen Grund, einem, der auch irgendwie logischer erscheint: Die Schnecke stand nämlich für Geld und Gewinn; dieses bizarre Meerestier war es gewesen, das die Grundlage für Marokkos Reichtum gelegt hatte – lange bevor sich überhaupt ein Staat dieses Namens konstituiert hatte.
Die Berber kannten sich als Wüstenbewohner auf dem Meer und an der Küste nicht gut aus, sie waren auch nicht sonderlich interessiert daran, diese Schnecken zu sammeln und irgendeiner sinnvollen Verwendung zuzuführen. Statt ihrer waren es Seefahrer aus fernen Regionen, von der Tausende Meilen weiter östlich gelegenen Mittelmeerküste, die man später Levante nannte, die erkannten, dass dieser Bauchfüßler etwas besaß, mit dem sich ein Vermögen machen ließ. Doch die Tiere in hinreichenden Mengen zu erwerben oder an sich zu bringen stellte eine große Herausforderung dar.
Denn das Meer, in dem diese so elegant gestalteten Schnecken in überaus reicher Zahl vorkamen, unterschied sich von seinem Charakter her vollkommen von den ruhigen Wassern des Mittelmeers. Die Gastropoden fanden sich vor allem im großen und furchterregend unbekannten Atlantik, wo sie sich, aus komplexen biologischen Gründen und dank evolutionärer Magie, hartnäckig an Felsen und Klippen festzuklammern vermochten. Das heißt, ihr Lebensraum lag außerhalb der damals bekannten maritimen Welt, in einem Gebiet, in dem einem die herkömmlichen seemännischen Fertigkeiten, die man im Mittelmeer erworben und vervollkommnet hatte, höchstwahrscheinlich wenig nutzen würden. Zum Einsammeln dieser Geschöpfe war es nötig, dass Seeleute von genügend großer Kühnheit – wenn nicht gar Tollkühnheit – sozusagen im Kollektiv die Zähne zusammenbissen und sich auf die Wogen eines Gewässers wagten, das damaliger Vorstellung nach das größte sein musste, das es überhaupt auf der Welt gab.
Im 7. Jahrhundert v. Chr. fanden sich tatsächlich Männer, die bereit waren, dieses Wagnis einzugehen. Sie segelten forsch an den Säulen des Herkules, die das Ausgangstor aus ihrem beschaulichen Heimatmeer markierten, vorbei und auf die sich dahinter öffnende immense, scheinbar grenzenlose graue Fläche hinaus – mitten ins Unbekannte hinein. Die Seeleute, die diese bemerkenswerte Leistung erbrachten, und dies beinahe wie beiläufig, waren Phönizier. Anfangs hatten sie nur Segelschiffe zur Verfügung, die so gebaut waren, dass sie den Wellen ihres vertrauten, überschaubaren Heimatmeeres standhielten, die sich jetzt aber auf den furchteinflößenderen Wogen eines unerforschten gewaltig großen Gewässers bewähren mussten. Diese Seefahrer müssen sich durch außergewöhnliche Eigenschaften ausgezeichnet haben, aber an jenen nordafrikanischen Schnecken, die es lohnenswert erscheinen ließen, ein solch hohes Risiko einzugehen, muss etwas noch Bemerkenswerteres gewesen sein.
So war es auch. Es scheint jedoch angebracht, die Schnecken erst einmal beiseitezulassen und sich mit der lange währenden und notwendigerweise komplexen Wanderung des Menschen aus dem Inneren der Kontinente an die Küsten des Meeres zu befassen, welche ja die Voraussetzung dafür war, dass die Phönizier viele Jahrtausende später überhaupt die Fahrt nach Marokko antreten konnten.
2. Ursprünge
D er Marsch des Frühmenschen in Richtung Ozean nahm schon nach auffallend kurzer Zeit seinen Anfang. Was genau unsere Ahnen dazu drängte, sich in Bewegung
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