Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Roosevelt den 12. Oktober zum »Columbus Day« erhob – den Präsident Nixon 1972 auf den zweiten Montag des Monats Oktober verlegte –, hat man in den USA mit einem landesweiten nach ihm benannten Feiertag Kolumbus formell Ehre erwiesen. Und wenn er auch etwas gewalttätiger und habgieriger als notwendig gewesen ist, geht die Geschichtsschreibung im Allgemeinen behutsam mit ihm um. Im Unterschied dazu gedenkt man Leif Erikssons, des Mannes, der mit größter Wahrscheinlichkeit als Erster den Atlantik überquerte und das amerikanische Festland erreichte, anscheinend um des Allgemeinwohls willen handelte und keinen Schaden in den von ihm entdeckten Territorien hinterließ, nur wenig, ja man erinnert sich seiner kaum. Zugegeben: Seit 1964 gibt es einen jährlich vom Präsidenten ausgerufenen Leif Eriksson Day, um den Beitrag der skandinavischen Völker zur Geschichte und Entwicklung der USA zu würdigen. Zuerst wurde dieser Tag in Minnesota und Wisconsin begangen, und zwar durch die Schließung einiger Ämter. Einige lokale Geschäftsleute boten und bieten an diesem Tag auch Sonderrabatte an. Doch in jeder anderen Hinsicht bleibt die amerikanische Nation mehr oder weniger indifferent gegenüber den Nordmännern. Wie jemand es einmal formulierte: Die Amerikaner essen lieber Pizza als Lutefisk. 15
Es scheint sich um eine seltsame Fehlinterpretation historischer Ereignisse zu handeln, eine, die auch der langen Geschichte des Atlantischen Ozeans irgendwie Unrecht tut, sie verfälscht. Die Dinge sind dabei, sich zu ändern, doch nur langsam. Vielleicht wird ein aufgeklärter Anwalt sich eines Tages dieses Falls annehmen und öffentlich vorschlagen, einen gewissen Grad an Gerechtigkeit herzustellen, indem man die exzessive Verherrlichung des einen Mannes eindämmt und dafür dem anderen, dem unbesungenen Helden, die Ehre erweist, die ihm gebührt. Doch muss man wohl bezweifeln, dass dies einmal geschieht.
Vielleicht liegt das alles weniger im italienischen Chauvinismus und der skandinavischen Bescheidenheit, sondern eher in der nicht zu leugnenden Tatsache begründet, dass Leif Eriksson zwar der erste Europäer war, der nordamerikanischen Boden betrat, dass er aber nie wirklich begriff, wo er sich eigentlich befand. Auch ging er nie davon aus, an einem besonders wichtigen Ort zu sein. Man könnte sagen, dass er einfach nichts kapierte . Wie Daniel Boorstin, Historiker und Bibliothekar an der Library of Congress, es einmal formulierte: »Bemerkenswert ist nicht, dass die Wikinger Amerika tatsächlich erreichten, sondern dass sie es erreichten und dort sogar eine Zeit lang siedelten, ohne Amerika zu entdecken.« Ihre Reputation hat seitdem aufgrund des Mangels an Ehrgeiz, der ihre Streifzüge auszeichnete, gelitten, aufgrund ihres Mangels an Weitblick.
Und da ist eine weitere Frage, die Kritiker kolonialer Unternehmungen und weißer Hegemonie nicht loslässt. Ist es vorstellbar, dass die präkolumbianischen Völker, die Ureinwohner Süd- und Nordamerikas, ihrerseits versuchten, über den Ozean in Richtung Osten vorzustoßen, nach Europa also? Wären einige von ihnen – die Kariben beispielsweise oder die Eingeborenen Neufundlands oder die alten Mexikaner – in der Lage gewesen, eine Fahrt, wie sie Eriksson und Kolumbus gelang, jedoch in umgekehrter Richtung, erfolgreich zu absolvieren?
Es gibt eine Reihe Indizien dafür, dass dies durchaus möglich gewesen sein kann: Tabakblätter und Spuren von Koka in ägyptischen Sarkophagen; einen skulptierten Bronzekopf im Louvre, von dem es heißt, er sei römischer Provenienz und stamme aus dem zweiten Jahrhundert, der aber Gesichtszüge aufweist, die denen amerikanischer Eingeborener frappierend ähneln; Mosaiken aus der Nähe von Pompeji, auf denen Früchte zu sehen sind, die an Ananas, Chilischoten und Zitronen erinnern; und die These, die mit unterschiedlichem Nachdruck von rivalisierenden Interpreten der relevanten Textstellen vorgebracht wird, dass Kolumbus 1477 im irischen Galway – ausgerechnet dort – einem aus Amerika stammenden Ehepaar begegnet sein soll. Ob er sie wirklich kennenlernte oder nur ihre Leichname sah oder aber lediglich von ihrer Existenz erfuhr, bleibt unklar.
»Menschen aus Katayo kamen in den Osten«, so entzifferte ein Exeget eine der Notizen, die Kolumbus in seinem Exemplar eines Geschichtswerks, von dem man weiß, dass er es gelesen hat, an den Rand kritzelte. »Wir haben viele denkwürdige Dinge gesehen, insbesondere in Galway, auf Irland,
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