Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Wasser gestürztes Vieh, für ertrunkene Kinder, unerwünschte Möbel, untergegangene Hochseeschlepper, hingerichtete Banditen, hastig fortgeworfene sechsschüssige Revolver, entgleiste Eisenbahnzüge, unerwünschte Haustiere – ihrer aller Schicksal würde es sein, auf ewig in bestimmten unteren Bereichen des Meeres herumzudümpeln, für immer in der kalten und salzigen Finsternis gefangen, ein bizzares Abbild der Welt oben.
Es dauerte eine Weile, bis diese Annahmen als irrig entlarvt wurden. Diejenigen, die trotz allem an ihnen festhielten, waren noch skeptischer als andere gegenüber der Ermittlung von Meerestiefen mithilfe von Loten eingestellt. Denn wie, so argumentierten sie, sollten die Gewichte aus Blei oder die Messingkugeln an den Enden der häufig verwendeten galvanisierten Birmingham-Klaviersaiten denn in das dickflüssige Wasser ganz tief unten eindringen? Sie prallten doch mit Sicherheit am oberen Rand dieser Schicht ab, anstatt auf dem Meeresboden aufzukommen.
Doch dann ersannen Maury und seine Männer eine Reihe von Loten und anderen Geräten, die, wenn man sie wieder einholte, Proben des Bodens mit an die Oberfläche brachten, gleichgültig, wie viele Meilen tief er unter einem lag; und als im Lauf der Zeit Mengen von Sand und Geröll sowie zerbrochenen Muschelschalen oder kleinen Splittern von Korallen nach oben befördert wurden und die Skeptiker diese Bodenproben mit eigenen Augen sahen, da verflüchtigte sich der merkwürdige Glaube an die »Dichteschichten« endgültig, und die Vernunft gewann wieder die Oberhand.
Auch andere Fantasievorstellungen kamen und gingen. Eine stand ebenfalls mit der Frage nach der Viskosität des Wassers in jener unbelebten Region in Zusammenhang, in der gewaltiger Druck, niedrige Temperaturen und ewiges Dunkel herrschten: Dort unten konnte es mit Sicherheit kein Leben geben, meinten einige. Es war, um einen damals geprägten Ausdruck zu verwenden, ein azooisches Reich. Doch bald nachdem die ersten Kabel verlegt worden waren, mussten Teile davon, die gebrochen waren, mithilfe eines Suchankers aus einer Tiefe von Tausenden von Fuß an die Oberfläche gezogen werden, und wenn man die Kabelenden an Deck auslegte, stellte man fest, dass Entenmuscheln und Würmer und anderes Getier an ihnen hingen, was bewies, dass es sogar ganz weit unten in der ewigen Finsternis ein munteres und üppiges Leben gab.
Es existierten noch andere, ausgesprochen langlebige Hirngespinste, die die Ozeanografen des 19. Jahrhunderts endlich aus der Welt zu schaffen vermochten: Vor allem was den Atlantik betraf, existierte eine große Zahl von Phantominseln; schon auf einer auf das Jahr 1570 datierten Karte des großen flämischen Geografen Abraham Ortelius sind viele von ihnen eingezeichnet: die in der Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms gelegene Insel der Dämonen , St. Brandan südlich und Frisland nördlich von Island, Santana eine kurze Strecke nordöstlich der Bermudas und Antillia (oder die Insel der Sieben Städte ) südöstlich von ihnen – ein Eiland, das, wie man zu der Zeit, als die Karte entstand, glaubte, immer noch spanische Bischöfe beherbergte, die acht Jahrhunderte zuvor vor den in ihr Land einfallenden Mauren geflüchtet waren. Dagegen verzeichnete Ortelius aber weder die Isle of Buss , die Martin Frobisher in einem Sturm entdeckt zu haben behauptete und die fast sechshundert Meilen westlich von Rockall liegen sollte, noch das angeblich vor der südirischen Küste gelegene Mayda . Auf seiner Karte sucht man auch vergebens den Umriss von Hy-Brasil , die mit außergewöhnlicher Ausdauer auf Dutzenden früherer wie auch späterer Karten ihre Position fünfzig Meilen vor der Küste von Connemara behauptete.
Nachdem er sich bei einem Postkutschenunfall schwere Knochenbrüche zugezogen hatte, widmete der Offizier der US-Navy Matthew Fontaine Maury seine ganze Energie der Kartografie und Ozeanografie. Sein Buch The Physical Geography of the Sea gilt als Standardwerk, was dieses Gebiet betrifft. Alle amerikanischen Seekarten verdanken ihre Genauigkeit seinen bahnbrechenden Erfassungs- und Vermessungsmethoden.
© Mit freundlicher Genehmigung der Library of Congress Prints and Photographs Division
Keine dieser Inseln existierte, sie waren genauso ephemere Fantasiegebilde wie Atlantis. Und das traf auch auf ein weiteres ozeanisches Kuriosum zu, welches das Denken der Viktorianer für eine kurze Zeit gefangen nahm: Es sollte im Meer angeblich eine protoplasmatische Form frühen
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