Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
aufzunehmen, dann gelangt man nach einer nur fünfminütigen Fahrt in Richtung Westen unter der Brooklyn Esplanade hindurch auf das filigrane Gebilde, welches die Brooklyn Bridge ist, und sieht an deren anderem Ende plötzlich die glitzernde Frontline von Manhattan aufragen – wie einen spektakulären Bühnenvorhang.
Manhattan kann kaum noch als architektonischer Tempel bezeichnet werden, der der maritimen Geschichte der Stadt geweiht ist und das Meer feiert. Seine unzähligen Wolkenkratzer sind Totempfähle, die man anderen Bereichen des Kommerzes und einem Reichtum anderer Art errichtet hat. Doch downtown , neben den Befestigungsanlagen und Bastionen der Battery, nur ein paar Meilen rauen Wassers von Ellis Island und Governors Island und der Freiheitsstatue in ihrem kleinen Inselpark, der einst Bedloe’s Island war, entfernt, findet man noch Hinweise auf die zisozeanischen Ursprünge der Stadt. Am bemerkenswertesten unter diesen Erinnerungsstücken ist das prachtvolle im Jugendstil gehaltene Custom House, das heute wenig genutzt wird, dem aber das Schicksal anderer nobler Gebäude erspart blieb, die man nämlich zertrümmerte, um den Schutt zur Geländeauffüllung zu verwenden.
An der Front dieses großartigen Gebäudes sind vier riesige Statuen von sitzenden Gestalten nebeneinander aufgereiht. Sie wurden von Daniel Chester French entworfen, dessen Ruhm vor allem auf seiner kolossalen Lincoln-Statue in Washington, D. C., gründet. Die vier Custom-House-Statuen symbolisieren die vier großen seefahrenden Kontinente.
Asien und Afrika, deren Statuen an die linke und die rechte äußere Ecke des Bauwerks verwiesen wurden, sind schlafend und reglos dargestellt, sie sind wenig mehr als nutzlos-hübsch und eigentlich zu vergessen. Europa und Amerika andererseits sitzen auf der linken beziehungsweise rechten Seite der Freitreppe, die zum Haupteingang führt, und sie bersten geradezu vor Noblesse, vor in Marmor eingefrorener Energie und einer anscheinend unbegrenzten Fähigkeit, Triumphe zu feiern und Reichtum anzuhäufen. Wenn man von zwei Kunstwerken sagen kann, dass sie das Sichvereinen verkörpern, durch das die neue atlantische Identität geschaffen wurde, dann ist es dieses Paar von marmornen Gigantinnen, die in den Straßenschluchten von Downtown Manhattan kaum Beachtung finden.
Zeitungen mit Berichten über Schiffe und Schiffsbewegungen wie das Journal of Commerce und Lloyd’s List zirkulieren immer noch in diesen Straßen ganz an der Südspitze Manhattans, und ein Laden in der Gegend, der sich New York Nautical nennt, bietet immer noch Seekarten der Approaches to Pernambuco oder des Estrecho de Magellanes an; natürlich hat man dort auch den Admiralty Pilot for the West Coast of Scotland auf Lager und Handbücher zu hundert anderen Regionen der Weltmeere jederzeit vorrätig. Ein von großer Fahrt zurückgekehrter Seemann kann sich dort List of Lights: North Atlantic kaufen, ein stattliches Angebot an Sextanten und Chronometern in blinkenden Messinggehäusen prüfen oder in Adlard Coles’ Heavy Weather Sailing und dem Ashley Book of Knots schmökern. Eine am Lower Broadway verbrachte Stunde, dann mit dem Taxi zurück zu den Piers von Red Hook, und man könnte sich tatsächlich ausreichend gewappnet fühlen, an Bord eines Schiffes zu gehen, Anker zu lichten, die Leinen loszuwerfen, unter der Narrows Bridge hindurch die offene See anzusteuern, in das bewegte Wasser um Fire Island vorzustoßen und dann Montauk zu passieren, wo das Nantucket-Feuerschiff das Ende der flachen Küstengewässer anzeigt, um danach endlich Kurs auf einen der Klassiker unter den Häfen der dreitausend Meilen weit entfernten Alten Welt zu nehmen, nach Bergen in Norwegen beispielsweise. Oder nach Antwerpen, Rotterdam, Liverpool, Cherbourg, Vigo, Casablanca oder sogar, wenn man mutig genug und ausreichend verproviantiert ist, um ein Ziel weit im Südosten anzusteuern, nach Kapstadt.
Dort, am anderen Ende der längsten über den Ozean führenden Diagonale, befindet sich der Gegenpol zu New York, dessen intellektueller und geistiger Antipode. Nur ein paar Meilen von der Südspitze des afrikanischen Kontinents entfernt liegt eine Stadt, die in der Tat »schaumgeboren« ist, dem Meer aber mit nur wenigen Werken von Menschenhand Hommage erweist, sondern das eher der Natur überlässt.
Das Überwältigende von Manhattan geht unbestreitbar von den Gebäuden aus, die die millionenfachen kreativen Fähigkeiten der Menschheit zum Ausdruck
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