Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Kalkstein, die zum Kauf drängenden Rufe der Händler, das Knarren von Schiffsplanken und das Reiben von Trossen, die Schreie der Seevögel, das endlose Gegrummel der Brecher am Strand und der Wogen weiter draußen, und alles in das warme Licht getaucht, wie es am frühen Morgen oder späten Abend, bei Sonnenauf- oder -untergang, am Meer herrscht und die hohen Kalksteinwälle mit einem lachsrosa Hauch überzieht. Cádiz und Santo Domingo könnten in solchen Augenblicken ein und dieselbe Stadt sein, durch ihren Stil und die Atmosphäre miteinander verbunden, durch die Männer, die sie erbauten, und durch den Ozean, neben dem sie in die Höhe gewachsen sind.
Und dann gibt es da die gewaltigen Atlantikstädte von heute, unter ihnen das unvergleichliche New York. Die Stadt ist nach wie vor das, was sie mehr als einhundertfünfzig Jahre gewesen ist: Sie stellt Amerikas sea-washed sunset gates dar, wie Emma Lazarus es in ihrer berühmten Inschrift auf dem Sockel der Freiheitsstatue genannt hat – das Tor zu einem Leben voller Hoffnung und Chancen für Millionen und Abermillionen, die auf die andere Seite des Ozeans auswanderten. Natürlich sind es heute die großen Flughäfen, über die die meisten Immigranten ins Land kommen, und die Mehrzahl von ihnen stammt aus Regionen, die weit jenseits des Atlantiks liegen, doch das New York von heute wird immer noch stark von Einwanderern geprägt, wie sie sich von der Mitte des 19. Jahrhunderts an aus dem alten Europa ohne Unterlass ins Land ergossen haben.
Sogar heute noch teilt sich einem immer wieder eindringlich mit, dass New York eine bedeutende Hafenstadt ist. Genau unterhalb der massiven aus Beton gegossenen Ankerpunkte der Verrazano Narrows Bridge in Brooklyn, neben einer Straße namens Leif Ericson Drive, über welche die Lastwagen donnern, befindet sich ein trübseliges, mit spärlichem Gras bestandenes Grundstück, von dem aus man so nahe an die vorüberfahrenden Schiffe herankommen kann, dass man beinahe, wäre da nicht ein Eisengeländer, die Hand ausstrecken und ihre Rümpfe berühren könnte. Und was für einen endlosen Prozessionszug sie bilden! Massengutfrachter aus den afrikanischen Häfen, voll beladen mit Kurs auf die Anlegekais von Bayonne in New Jersey unterwegs. Schlanke Containerschiffe aus Göteborg, ohne Zweifel mit billigen Ikea-Möbeln voll gestopft, deren Ziel der Kai neben der größten Niederlassung des Unternehmens in Elizabeth, ebenfalls New Jersey, ist. Blendend weiße, fensterlose, in den belgischen und französischen Montagestätten beladene Autotransporter auf dem Weg zu den Entladekais am Port Newark Channel; Öltanker, die sich vorsichtig den Kanal hinauftasten zu den Tankanlagen südlich von Kearney, und hin und wieder vielleicht sogar ein großer Passagierdampfer, ein immer noch elegant wirkendes Schiff der Cunard Line vielleicht oder ein ordinär aussehendes und in alarmierender Weise topplastiges von Carnival, dessen Ziel die Piers an der Westseite von Manhattan sind oder das den vor Kurzem auf Hochglanz gebrachten neuen Terminal für Kreuzfahrtschiffe bei Red Hook, Brooklyn, ansteuert.
Auch die ausfahrenden Schiffe schieben sich langsam an einem vorbei, ihre gigantischen Schrauben wühlen das Wasser auf, wenn sie erst Sea Gate und Breezy Point in New York passieren und dann Sandy Hook und die niedrigen Hügel in New Jersey, die man recht großmütig als Atlantic Highlands bezeichnet. Anschließend führt sie ihr Weg an den sorgfältig bewachten und abgeschirmten Piers der US-Navy vorbei, an denen amerikanische Kriegsschiffe mit Munition versehen werden, und dann geht es hinaus auf die Wellen des Atlantiks. Man riecht an dieser Stelle bei der Verrazano-Brücke schon die nahe See, und außer an besonders drückenden Sommertagen scheint hier immer eine frische Brise zu wehen. Dutzende von kleineren Wasserfahrzeugen flitzen zwischen den mächtigeren Schiffen umher wie die Insekten, die man Wasserläufer nennt. Hier lauern auch Boote der Wasserpolizei, mit Motoren, die träge vor sich hin brummen, aber wenn nötig für rasante Geschwindigkeit sorgen können.
Und da hinten liegt der Fahrdamm, der – die Schreibweise ist etwas informell – nach dem Norweger benannt ist, der diesen Ozean als Erster überquerte. Auf ihm bewegen sich Ströme von Lastern, Privatautos und gelben Taxis voran, die zumeist vom Kennedy Airport kommen. Wenige Taxifahrer halten hier gerne an, doch wenn einer dazu gebracht werden kann zu stoppen und einen
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