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Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Titel: Der Atlantik - Biographie eines Ozeans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Jahren.
    Ich hatte den Auftrag, eine Reportage zu verfassen, und wanderte im Zusammenhang damit von der spanischen Atlantik- zur Mittelmeerküste des Landes, wozu ich ungefähr fünfzig Meilen über die Klippen und durch die Korkeichenwälder Südandalusiens zurückzulegen hatte. Cádiz war mein Ausgangspunkt, der britische Vorposten Gibraltar mein Ziel.
    Bevor ich in London aufgebrochen war, hatte ich angenommen, der Höhepunkt meiner bescheidenen Expedition werde der Zwischenhalt in Tarifa sein, der südlichsten Stadt von ganz Europa. Von dort aus würde ich nämlich die schneebedeckten Gipfel des Atlasgebirges in Marokko sehen können. Irgendwie schien es mir kaum vorstellbar – ich war Mitte dreißig und riss bei meiner Wanderung die Augen immer wieder voll Staunen weit auf –, dass es von den Hafenanlagen einer kleinen südeuropäischen Stadt aus möglich sein sollte, einen Blick auf Afrika zu werfen, jenen unvorstellbar fernen und so unbeschreiblich anderen Kontinent mit seinen Löwen und Giraffen, seinen Mohren und Buschmännern und seinem Kilimandscharo.
    Aber, ja: Es lag da, groß und sich undeutlich abzeichnend, mit marokkanischem Wüstensand rosa bestäubt, und es war genauso ein spektakulärer Anblick, wie ich es erwartet hatte, voller Symbolik und Omina. Doch irgendwie kam es nicht ganz an Cádiz heran, wo große Erregung in der Luft gelegen hatte, als ich ein paar Tage zuvor zu meiner Wanderung aufgebrochen war, denn es war dort zu einem merkwürdigen Vorfall gekommen. In einem besonders alten Teil der Stadt, die generell sehr alt ist, war ein Brand ausgebrochen, der einige Abrissarbeiten notwendig gemacht hatte. Am ersten Morgen, den ich in Cádiz verbrachte, vermochte der Oberkellner des Hotels Atlantico seine Erregung über eine Neuigkeit, die er gerade gehört hatte, kaum zu unterdrücken. Man hatte die Ruinen eines römischen Theaters gefunden! Das raunte er mir zu, als er mir die bestellten zwei Frühstückseier servierte. Es könnte sich sogar um das größte auf der Welt handeln!
    Es stellte sich dann als das zweitgrößte heraus. 28 Doch die Entdeckung einer Anlage, die einer von Julius Cäsars Befehlshabern im ersten vorchristlichen Jahrhundert hatte errichten lassen, verlieh der Vorstellung dieser ansonsten überaus bescheidenen Stadt von sich als einem Ort von ehemals großer Bedeutung und hohem Alter konkrete Gestalt. Cádiz hatte den Römern als Flottenstützpunkt gedient, und nun lag der Beweis vor, dass man auch für die Unterhaltung der Seeleute gesorgt hatte. Die Karthager hatten Ähnliches getan, und vor ihnen waren schon die Phönizier da gewesen, die es Gadir, mit Mauern umgebener Ort, nannten. Es war eine bedeutende Stadt schon lange bevor man wusste, dass der Atlantik ein Ozean war.
    Das alte Zentrum von Cádiz liegt auf einem schmalen Streifen Land zwischen dem Ozean und der Bucht. An der zur See hin gelegenen Spitze erhebt sich ein Fort mit dicken Mauern, Kanonen und Wachtürmen mit Schießscharten, von denen aus Posten das Meer beobachten konnten. Innerhalb der Wehrmauern stößt man auf ein Gewirr von alten Bauten, zumeist aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Und hinter dem Fort reihen sich Herrenhäuser und Paläste aneinander, die ebenso wie die prächtigen Plazas mithilfe des Vermögens erbaut und angelegt wurden, das die Bürger von Cádiz in den zwei Jahrhunderten, in denen ihre Stadt der Hauptumschlaghafen Spaniens im Handel mit Amerika war, anhäuften.
    Zum Ausgangspunkt für meinen langen Marsch nach Osten wählte ich mir die Stelle unter den Palmen auf der Plaza de la Candelaria, wo einer Plakette zufolge das Haus von Bernardo O’Higgins gestanden hatte, dem Chilenen irischer Abstammung, der im 19. Jahrhundert für sein Land die Unabhängigkeit von Spanien erkämpfte. Ich schlenderte zunächst unterhalb einer Handvoll Türmen entlang, von denen aus Kaufmannsgattinnen einst nach heimkehrenden Schiffen Ausschau gehalten hatten. Ich kam am alten Tabaklagerhaus vorbei, an der makellos in Schuss gehaltenen Kathedrale und dem Kloster und gelangte schließlich auf die große nach Süden führende Straße – unter schützenden Planen lag zu meiner Linken das römische Theater; direkt vor mir erstreckten sich, heiß und staubig, der Damm, der die Verbindung zum andalusischen Festland herstellte, und die Straße nach Gibraltar. Irgendwie brachte ich es fertig, ein wenig die Orientierung zu verlieren, und fragte einen elegant gekleideten Spanier fortgeschrittenen Alters nach dem

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