Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
über den Dampfertrack wegzukommen und so bald wie möglich den freundlichen Golfstrom zu erreichen. Der Nebel lichtete sich, ehe die Nacht kam; so konnte ich gerade in dem Augenblick einen Blick auf die Sonne werfen, als sie in die See einzutauchen begann. Ich sah zu, wie sie unterging und verschwand. Dann drehte ich mich nach Osten um. Da stand genau am Ende des Bugspriets der lächelnde Vollmond, der gerade aus der See aufstieg. Selbst wenn Neptun über den Bug zu mir heraufgeklettert wäre, hätte mich das nicht freudiger stimmen können. ›Guten Abend, alter Geselle‹, rief ich, ›wie freue ich mich, dich zu begrüßen!‹ Manch einen langen Snack hatte ich seitdem mit dem Mann im Monde; er war auf der Fahrt mein Vertrauter.«
Slocum bevorzugt einen schnörkellosen Stil, seine Ausdrucksweise ist ehrlich und geradeheraus und von einer für die Shaker Neuenglands typischen Schlichtheit. Der Mann war vielleicht ein bisschen verrückt, aber sein Werk gibt seine tiefe Vertrautheit mit der See zu erkennen, seinen Respekt vor ihren Launen und seine Zuversicht, dass sie gerecht mit seinem kleinen Boot umgehen und es verschonen wird. Und diese Zuversicht erwies sich als durchaus begründet, denn beinahe auf den Tag genau drei Jahre nach seinem Aufbruch steuerte Captain Slocum seine kleine Spray in den Hafen von Newport, Rhode Island, womit er aber nur wenig Aufsehen erregte, da der Spanisch-Amerikanische Krieg die Schlagzeilen der Zeitungen beherrschte. Danach begannen seine schriftstellerische Karriere und sein kurzer Flirt mit dem Glück. Ein Jahrzehnt später, als seine Finanzen mehr oder weniger erschöpft waren, stach er erneut in See – dieses Mal jedoch blieb er verschollen. Vermutlich hatte die See ihn irgendwo in der Nähe der Westindischen Inseln zu sich geholt. Sein Werk aber lebt weiter: »Jedes Kind, das sich nicht für Slocums Buch interessiert«, schrieb Arthur Ransome einmal in einer Besprechung, »sollte sofort ersäuft werden.«
Joshua Slocum, einer der ersten Einhandsegler, denen die Umrundung der Welt ganz allein auf sich gestellt gelang, veröffentlichte 1899 einen Bericht über seine Erlebnisse. Sein Buch wurde zu einem Klassiker der Reiseliteratur, erlebte zahlreiche Auflagen und wurde in viele Sprachen übersetzt.
Die Welt zu umsegeln ist seitdem beinahe zu etwas ganz Gewöhnlichem geworden. Francis Chichester hat es getan und ebenso Robin Knox-Johnston; und dann gab es da die traurige und rätselhafte Affäre um Donald Crowhurst, der schummelte, allmählich verrückt wurde und sich selbst ertränkte. Danach haben noch ungefähr hundert weitere Segler die Welt umrundet. Jetzt, da ich dies schreibe, kommt gerade die Meldung, dass ein Junge von kaum siebzehn Jahren, der zufällig aus derselben englischen Kleinstadt kommt wie ich, ebenfalls um die Welt gesegelt ist. Die Royal Navy sandte ein Kriegsschiff aus, um ihn willkommen zu heißen, als er die imaginäre Linie zwischen Ushant und Lizard Point kreuzte, die jetzt als Start- und Ziellinie für solche Unternehmungen gilt und auch die Grundlage für die Zeitnahme liefert. Dass das, was Joshua Slocum mit seiner Spray vollbrachte – ohne Chronometer, von einem GPS-System ganz zu schweigen –, sich zu einem reinen Hightechstunt entwickelt hat, zu etwas, zu dem auch Kinder antreten können, scheint die Leistung an sich irgendwie zu mindern.
Eine solche Ökonomie des Ausdrucks, wie sie Slocums Schriften auszeichnet, ist sehr selten. Das kann aber kaum überraschen angesichts der Tatsache, dass jeder moderne Schriftsteller das Gefühl haben muss, große Anstrengungen seien erforderlich, um etwas über das Meer zu sagen, was noch nicht gesagt worden ist. Doch Rachel Carson entdeckte hin und wieder eine solche eindringliche Direktheit in einer unerwarteten Quelle. In einem Kapitel ihres klassischen Werks The Sea Around Us (Geheimnisse des Meeres) , das den Unbilden des Wetters und stürmischen Gewässern gewidmet war, zitiert sie aus einem der Pilots der britischen Admiralität, jenen blau eingebundenen Handbüchern über die Bedingungen in Küstengewässern, die im Kartenraum jedes Schiffs zu finden sind, das sich jemals auf die Fahrt zu fremden Ufern begeben hat:
»[…] es ist unwahrscheinlich, dass irgendeine Küste wütender von den Meereswogen heimgesucht wird als die Shetland- und die Orkneyinseln, da sie auf dem Wege der Wirbelstürme liegen, die ostwärts zwischen Irland und den Britischen Inseln verlaufen. Die ganze wilde Atmosphäre
Weitere Kostenlose Bücher