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Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Titel: Der Atlantik - Biographie eines Ozeans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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sind, die auf dem schrägen Deck eines Schiffs in schwerer See das Gleichgewicht zu wahren versuchen: eine Darstellung, die im Betrachter ein Gefühl von Seekrankheit aufkommen lässt. Turner lernte auch nie die berühmteren Gemälde des Amerikaners kennen: Gulf Stream , Breezing Up, After the Hurricane oder Bahamas , auf denen mit meisterhafter Ökonomie, die aber auch auf die bereits von Turner praktizierte Vagheit bei der Darstellung maritimer Sujets zurückgeht, die Macht und Majestät des Ozeans eingefangen sind. Homer liebte die Kargheit und Lauterkeit des Meeres, er liebte seine Einsamkeit, seine Ruhe – Rowing Home ist ein perfektes Beispiel für die gelungene Wiedergabe der sich in der Abendröte nahezu unbewegt bis zum Horizont erstreckenden See. Aber noch lieber waren ihm wilde Stürme.
    Und auch der Kampf zwischen Mensch und Meer hörte nicht auf, ihn zu faszinieren – ein Gemälde, dem er den Titel Undertow gab und das 1886 entstand, zeigt die Errettung zweier junger Frauen vor dem Ertrinken: Zwei kräftige Burschen bemühen sich unter Aufbietung all ihrer Kräfte, sie vor dem Sog der Wellen in Sicherheit zu bringen, der sie ins Meer zurückzuziehen droht.
    Winslow Homer hielt eine ganze Reihe solch heroischer Taten fest, als er zwei Jahre in Nordostengland verbrachte, wo die Nordsee besonders wild sein kann, viele Schiffe scheitern und viele Menschen durch Ertrinken ums Leben kommen. Ich habe als junger Zeitungsreporter in jener Region gearbeitet und kannte die Küste gut. Wie oft habe ich nicht zusammen mit einem Fotografen ausrücken müssen, wenn bei Cullercoats, bei Whitley oder den Farne Islands wieder einmal ein Rettungsboot ausgelaufen war, und dann bestürzt zugesehen, wie ein tropfender, in eine Wolldecke gehüllter menschlicher Körper aus der tobenden Gischt zu einem Krankenwagen geschoben und dann langsam weggefahren wurde, ohne dass der Fahrer das blaue Warnlicht eingeschaltet hätte. Solche Ereignisse bestätigten Homer zu seiner Zeit, genau wie mir viele Jahrzehnte später, dass der Ozean unfehlbar in jedem Wettstreit mit Menschen gewinnt, die ihn herausfordern, und dass dies die natürliche Ordnung der Dinge ist.
    9. Schreibfeder, Papier und Salzluft
    S eit Beginn der Neuzeit haben sich Unmengen von fiktiven Seeleuten auf dem Meer getummelt, und über die Jahre hinweg ist ein un-geheurer literarischer Schatz angehäuft worden. Dickens, Trollope und Poe haben sich alle an entsprechenden Themen versucht, ebenso Virginia Woolf, Hilaire Belloc und T. S. Eliot – manchmal fragt man sich, ob es noch etwas über das Meer zu erzählen gibt, das noch nicht erzählt worden ist, ob irgendein maritimes Szenarium noch nicht auseinandergepflückt und in allen Einzelheiten beschrieben worden ist. Schriftsteller haben sich ebenso mit bekannten wie mit unbekannten Ozeanen befasst, solchen, die überquert worden sind, und anderen, die noch niemand überquert hat oder die man nicht überqueren kann, weder mit Segel- noch mit Dampfschiffen; mit Meeren, die dem Menschen freundlich oder feindlich gesinnt sind, eiskalt oder dampfend vor Hitze, mit gigantischen oder winzig kleinen Häfen, in denen Fracht von jeder Art ver- oder entladen wird. 29
    Es ist möglich, jene Werke herauszufiltern, die vom Meer selbst handeln und es nicht in erster Linie als Kulisse für eine ganz andere Geschichte verwenden. Und was solche Werke betrifft, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass die von amerikanischen Autoren verfassten von einer Energie erfüllt sind, wie man sie in denen von Schriftstellern anderer Nationalität nicht in diesem Maße findet, auch wenn insgesamt gesehen die Erfahrungen eines jeden vom Ozean faszinierten Schriftstellers ziemlich identisch sind. Das Meer ist in einem allgemeinen Sinn immer sehr ähnlich, und auch die Wracks und die Gefahren, die Stürme und die Flauten unterscheiden sich nicht allzu sehr voneinander, gleichgültig, von welchem Hafen aus man in See sticht oder in welche Richtung man sich zu fahren entscheidet.
    Doch gibt es einen deutlichen Unterschied in der Einstellung, in der Betrachtungsweise oder dem Ansatz englischsprachiger Autoren auf der östlichen und der westlichen Seite des Atlantiks. Einige sind der Ansicht, dies rühre daher, dass Amerika über eine Landmasse verfüge, die in Bezug auf die Größe der an sie grenzenden See in ungefähr gleichkommt, und dass diese Landmasse mit ihren Wäldern, Wüsten und Gebirgszügen in ähnlicher Weise in der Lage sei, den Menschen

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