Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Whitmans Text, in dem von der Liebe eines Paars atlantischer Seemöwen erzählt wird, die endet, als das Weibchen eines Tages fortfliegt und nicht zum Nest zurückkehrt.
Claude Debussy verfasste ungefähr zur selben Zeit drei symphonische Skizzen über den Atlantik, von denen eine das Erscheinungsbild und die Stimmung der See zwischen Morgengrauen und Mittagszeit zum Thema hat, die zweite dem komplexen und subtilen Spiel der Wellen gewidmet ist und die letzte dem, was er »das Zwiegespräch zwischen Wind und See« nannte. Diese drei Werke wurden kollektiv unter dem schlichten Titel La mer bekannt, und ihr immenser Erfolg in den Konzertsälen Europas trug dazu bei, dass diesem neuen Stil, dieser Musik, in dessen Mittelpunkt das Meer stand, das Etikett »Impressionismus« angeheftet wurde: Die Klänge, die sie vernahmen, hinterließen bei den Hörern das Gefühl, den Ozean, seine Gegenwart oder Anwesenheit, erfahren zu haben, und zwar ohne dass der Komponist zu akustischen Signalen und Symbolen hätte Zuflucht nehmen müssen – wie Mendelssohn zu seinem Flötentriller –, wie sie bei den früheren, direkteren oder »konkreteren« Darstellungen nötig gewesen waren.
8. Das Einfangen des Lichts
M aler hatten sich schon lange das Konzept des Impressionismus zu eigen gemacht – die absichtliche Vagheit der Wiedergabe, die bewusste Ungenauigkeit, die Verschwommenheit oder, wie ein früher Kunstkritiker es nannte, die Vermittlung eines »nebulösen Eindrucks« – und stellten bald fest, dass es sich besonders gut zur Darstellung der See eignete. Die Franzosen waren mit die Ersten: Mit der neu erbauten Eisenbahn, die Pariser Ausflügler in wenigen Stunden zu den Badeorten an der Atlantikküste und in der Normandie brachte, konnten auch Maler schnell ans Meer gelangen. Monet, Signac und Seurat sind alle für ihre Gemälde bekannt geworden, die das Meer zum Thema haben, das Wasser, die Felsen, den Strand, auch die träge Stimmung, die dort im Sommer herrschte, oder das Wüten der Elemente im Winter. Der Begriff »Impressionismus« selbst geht auf ein Gemälde des Atlantischen Ozeans zurück – ein Werk von Monet, das einen Sonnenaufgang im Hafen von Le Havre zeigt und 1872 entstand. Als er von seinem Pariser Kunsthändler gefragt wurde, welchen Titel er dieser schnell hingeworfenen Ansicht von Masten, Morgennebeln und diffusem Sonnenlicht, von seinem hochgelegenen Hotelfenster aus eingefangen, geben wolle, antwortete der Künstler, da man es kaum als Studie Le Havres bezeichnen könne, würde man es vielleicht am besten einfach eine »Impression nennen«. Der Händler solle einfach darunter schreiben: Impression, soleil levant.
John Ruskin meinte einmal, »das Wasser in seiner ganzen Perfektion zu malen ist ebenso unmöglich, wie die Seele zu malen«. Viele haben es dennoch versucht. Von all den Malern der zweiten Hälfte des 19. und des Anfangs des 20. Jahrhunderts, die dieses Sujet in Angriff genommen haben – bis hin zu der zeitgenössischen lettisch-amerikanischen genialen Verfertigerin von Bleistiftskizzen Vija Celmins, deren Zeichnungen Ruskins Behauptung als unwahr zu entlarven drohen und zu denen man vielleicht auch die überwältigenden Fotos des Japaners Hiroshi Sugimoto hinzunehmen sollte –, ist vielleicht niemand erfolgreicher gewesen als ein grandioses transatlantisches Paar, bestehend aus einem Amerikaner, dem am Atlantik geborenen Bostoner Yankee Winslow Homer, und dem Londoner J. M. W. Turner, der eine ganze Weile früher lebte und arbeitete. Beide ließen sich von der Welle dokumentarischer maritimer Malerei mitreißen, jagten wie eine Galeone unter vollen Segeln auf ihr dahin und wandelten dabei die Ansicht vom Ozean für alle Zeiten.
Turner, der die erste Hälfte seines Lebens der Darstellung von Stürmen, Sonnenuntergängen und Wracks mit Öl- wie auch mit Aquarellfarben gewidmet hatte, war seiner Zeit weit voraus; er fertigte eine große Zahl von Gemälden in einem höchst reifen, lebhaft-impressionistischen und sofort wiederzuerkennenden Stil an, und zwar Jahrzehnte vor Malern wie Monet. Zum Zeitpunkt von Winslow Homers Geburt war er schon an Jahren fortgeschritten, und als der Amerikaner die ersten der Stiche schuf, die seine künstlerische Karriere einleiteten, war Turner bereits verstorben. Er erfuhr also nie, welch überwältigende Kraft Homers Homeward Bound beispielsweise innewohnte, einem Holzschnitt, den dieser 1867 für das Magazin Harper’s anfertigte und auf dem Passagiere zu sehen
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