Der Atlantis-Komplex
Hilfe zu bitten – es sei denn, die Lage wäre völlig aussichtslos. Deshalb beunruhigte ihn ihre Nachricht so sehr.
Butler joggte gut drei Kilometer, ohne ins Schwitzen zu geraten, und schlängelte sich durch Trauben von Nachtschwärmern, bis er vor der Glas- und Stuckfassade des Teatro Grande ankam. Etwa ein Dutzend Türsteher in roter Livree flankierten die gläsernen Schiebetüren und begrüßten die Zuschauer, die zu der großen Show strömten, mit einem Nicken und einem Lächeln.
Zum Hintereingang , beschloss er. Wie immer .
Butler umrundete das Gebäude und dachte bei sich, dass es schön wäre, wenigstens ein einziges Mal durch den Haupteingang zu gehen. Nun, vielleicht in einem anderen Leben, wenn er zu alt für diesen Job war.
Wie alt ›zu alt für diesen Job‹ wohl ist? , überlegte er. Und überhaupt, nach all den Zeitreisen und magischen Heilungen weiß ich gar nicht mehr, wie alt ich tatsächlich bin.
Sobald Butler beim Hintereingang ankam, verbannte er alle Gedanken aus seinem Kopf, die nichts mit der anstehenden Aktion zu tun hatten: Er musste zu Juliet gelangen, herausfinden, in welcher Notlage sie sich befand, und sie mit minimalem Kollateralschaden daraus befreien. Bis zum Beginn der Show waren es noch zehn Minuten, so dass es ihm mit ein bisschen Glück vielleicht gelang, sich seine Schwester zu schnappen, bevor der Saal zu voll wurde.
Die Sicherheitsvorkehrungen am Hintereingang bestanden aus einer einzigen Überwachungskamera. Zum Glück war das Teatro Grande ein ganz normales Theater und nicht der Kongresssaal eines Luxushotels, denn sonst hätten ihn an der Rückseite mehrere Pools, ein Haufen Touristen, eine Salsa-Band und wahrscheinlich ein halbes Dutzend als Zivilisten verkleidete Sicherheitsleute erwartet. So jedoch schlüpfte Butler unbemerkt in das Theater und winkte beim Hereingehen nur kurz in Richtung der Kamera, damit sein Gesicht nicht zu erkennen war.
Niemand stellte sich ihm in den Weg, während er sich durch den Backstage-Bereich des Theaters bewegte. Er kam an zwei kostümierten Wrestlern vorbei, die sich einen Mineraldrink teilten, doch sie beachteten ihn kaum, da sie vermutlich annahmen, er sei einer von ihnen. Viel Muskeln, wenig Hirn, so wie er aussah, eine Kampfmaschine.
Wie in den meisten Theatern gab es auch im Teatro Grande kilometerlange Flure und Gänge, die nicht in den Bauplänen verzeichnet waren, die Butler sich mit seinem Handy aus Artemis’ Interpedia heruntergeladen hatte. Dieses spezielle Nachschlagewerk verfügte nämlich unter anderem über die größte Bauplan-Sammlung der Welt; dort waren sämtliche Bauzeichnungen gespeichert, die jemals ins Netz gestellt worden waren – und dazu etliche, die Artemis gestohlen und eigenhändig ins Netz gestellt hatte.
Nachdem er mehrmals falsch abgebogen war, streikte selbst Butlers ausgezeichneter Orientierungssinn, und der massige Leibwächter hätte am liebsten einfach die Wände eingeschlagen und sich auf dem kürzesten Weg dorthin begeben, wohin er wollte: zu den Künstlergarderoben.
Als Butler endlich dort ankam, marschierten die Wrestler gerade in einer Reihe Richtung Bühne. Mit ihren bunten Lycra- und Seidenkostümen sahen sie aus wie der Schwanz eines chinesischen Drachens. Nachdem der letzte Wrestler im Bühnenbereich war, baute sich eine Mauer aus Fleisch und Muskeln in Gestalt von zwei riesigen Rausschmeißern vor dem Bühneneingang auf.
Ich könnte mir die beiden vorknöpfen , dachte Butler. Das wäre kein Problem, aber dann hätte ich nur ein paar Sekunden Zeit, um Juliet zu finden und hier rauszuschaffen. Und wie ich meine Schwester kenne, wird sie erst eine lange und letzten Endes unwichtige Debatte führen wollen, bevor sie bereit ist zu gehen. Ich muss so denken wie Artemis, wie der frühere Artemis, und das Ganze ruhig angehen. Die rabiate Tour würde vermutlich dazu führen, dass wir beide getötet werden .
Er hörte die Jubelschreie der Menge, als die Wrestler die Bühne betraten. Der Lärm wurde durch eine Doppeltür gedämpft, aber auch aus der Garderobe drang er mit einer erstaunlichen Lautstärke. Butler streckte den Kopf hinein und bemerkte einen Monitor an der Wand, auf dem alles, was im Ring geschah, gut zu sehen war. Wie praktisch.
Butler trat näher an den Monitor heran und suchte nach seiner Schwester. Da war sie, in der Ecke des Rings, und machte ein paar Aufwärmübungen, die allerdings mehr der Show dienten als ihren Muskeln. Hätte Butler in diesem Moment seinen
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