Der Attentäter - The Assassin
verlassen hatte. Sie hatte allein zu Mittag gegessen, wie üblich, und es war, als hätte der Wolkenbruch absichtlich erst in dem Augenblick eingesetzt, als sie auf die Straße trat. Naomi Kharmai blickte zum Himmel auf und fragte sich, ob sich das Wetter gemeinsam mit dem Rest der Welt gegen sie verschworen hatte. Als ihre grünen Augen über das Meer von aufgespannten Schirmen glitten, kam sie sich etwas töricht vor, wie ein Tourist, der nicht wusste, dass es in dieser Stadt ständig regnete. Dabei war sie in England aufgewachsen. Kurzzeitig dachte sie darüber nach, ein Taxi herbeizuwinken, entschied sich aber dagegen. Sie war schon so nass, dass es keine Rolle mehr spielte.
Kharmai, eine kleine, schlanke Frau, hatte kürzlich ihren einunddreißigsten Geburtstag gefeiert, sah aber deutlich jünger aus. Ihre karamellfarbene Haut und die grünen Augen verrieten, dass ihre Familie aus Indien stammte, aber sie hatte nie einen Fuß auf asiatischen Boden gesetzt. Sie war Britin, weil sie in England geboren worden war, zugleich aber naturalisierte amerikanische Staatsbürgerin. Letzteres war die Voraussetzung für ihren Job in der amerikanischen Botschaft am Grosvenor
Square, wo sie offiziell als Analystin im Office of Defense Cooperation geführt wurde. Das stimmte so jedoch nicht ganz. Sie war Analystin, aber nicht für das ODC, sondern für die CIA.
Rekrutiert hatte sie der Geheimdienst vor knapp fünf Jahren. Damals arbeitete sie in der Softwareabteilung der Bell Laboratories in Murray Hill. Sie mochte ihre Arbeit nicht. Es war ein Einsteigerjob, der wenig Hoffnung auf nennenswertes berufliches Fortkommen bot. Sie hatte den drittbesten Abschluss ihres Jahrgangs in Stanford gemacht, doch das zählte nicht viel in einem Unternehmen, wo einige der besten Computerspezialisten und Programmierer überhaupt arbeiteten. Folglich hatte sie die Chance beim Schopf ergriffen, in der Abteilung für Wissenschaft und Technologie der CIA einen neuen Job zu bekommen. Dort kam sie mit einigen der aktuellsten technischen Innovationen in Berührung, doch wichtiger war, dass sie die Technologie auch sinnvoll anwenden konnte. Aber ihre Talente beschränkten sich nicht auf das Gebiet der Kryptographie. Es dauerte nicht lange, bis ihre Sprachkenntnisse ihr zu einer Stellung beim CTC verhalfen, der Antiterrorabteilung der CIA. Dort war im letzten Jahr Jonathan Harper auf sie aufmerksam geworden, der für eine bevorstehende Operation dringend eine Spezialistin mit Arabischkenntnissen benötigte.
Mittlerweile regnete es noch stärker. Sie zog den Kopf ein und beschleunigte ihren Schritt, als sie den Platz vor der Botschaft überquerte. Nachdem sie die Marmortreppe hinaufgeeilt war, zog sie die Tür des Personaleingangs auf, kramte ihren Ausweis aus der Handtasche und reichte ihn dem bewaffneten Marine, der für die Sicherheitsüberprüfung zuständig war.
Als der freundlich lächelnde Mann die Prozedur abgeschlossen hatte, eilte sie sofort zum Aufzug. Kurz darauf stand sie in ihrem Büro im zweiten Stock, wobei das Wort Büro etwas
hochgegriffen schien, denn es war nur ein winziger, fensterloser Raum. Insgeheim vermutete sie, dass er früher von einer Putzfrau genutzt worden war, die ihretwegen hatte weichen müssen. Manchmal ertappte sie sich dabei, dass sie dem Pflegepersonal auf den Fluren verstohlene Blicke zuwarf, als müsste sie irgendwann mit Vergeltung rechnen.
Sie schaltete den Computer ein, legte den Mantel ab und hängte ihn über die Heizung in der Hoffnung, dass er bis zum Abend wieder halbwegs trocken war. Als sie sich gerade um ihre klatschnassen Haare kümmern wollte, klopfte es an der Tür. »Ja bitte?«
Eine ihrer Kolleginnen, ebenfalls Analystin, steckte den Kopf durch die Tür. »Hallo, Naomi.« Sie musste lächeln. »Wieder mal den Schirm vergessen?«
Kharmai seufzte. »Stimmt, ich sollte es besser wissen. Immerhin habe ich die ersten achtzehn Jahre meines Lebens hier verbracht.«
»Wenn du es bis jetzt nicht begriffen hast, wird es wohl zu spät sein. Wie auch immer, der Boss will dich sprechen.«
»Okay. Worum geht’s?«
»Keine Ahnung. Diesmal bist du allein eingeladen. Er will, dass du diese Liste mitbringst.«
Kharmai nahm sie entgegen und blickte darauf. »Wo ist er?«
»In Raum C.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. Die Konferenzräume waren abhörsicher und mit Schlössern ausgerüstet, bei denen man einen Code eingeben musste. Sie waren für die Besprechung heiklerer Themen reserviert, aber praktisch
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