Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
anzusehen. Diesen Weg ist bereits Darwin gegangen und spätere Autoren sind ihm darin gefolgt. [10] Der aufrechte Gang kommt hier ins Spiel, weil erst durch ihn (wie eben gesehen) die anatomischen und physiologischen Voraussetzungen für artikuliertes Sprechen gegeben waren. – Die Hintergrundannahme dieses Ansatzes, nämlich dass ‹Sprache› = ‹Lautsprache› sei, ist allerdings nicht zwingend. Zahlreiche Untersuchungen über die heute verwandten Gebärden- oder Gestensprachen haben ergeben, dass diese der Lautsprache in keiner Hinsicht prinzipiell unterlegen sind. Damit entsteht Raum für die Hypothese, dass die Wurzeln der Sprache nicht in den Lautäußerungen von Primaten liegen könnten, sondern in ihrer gestischen Kommunikation. Prinzipiell ist dieser Gedanke nicht neu. Bereits Condillac (1746: 187ff.) hatte den Ursprung der Sprache in das gestische Verhalten eines ersten Menschenpaares verlegt, das er als «Handlungssprache» (langage d’action) bezeichnete; aus ihr habe sich später dann die uns bekannte Lautsprache entwickelt. Den aufrechten Gang erwähnt er nicht ausdrücklich; als aber im 19. Jahrhundert die Sprachentstehung aus Gesten erneut diskutiert wurde, wies Steinthal auf die einleuchtende Tatsache hin, «dass auch die Gebärdensprache bloß bei aufrechter Stellung des Menschen völlig in Gang kommen konnte. Der Mensch musste auch dazu die Hand frei haben. Die Lautsprache war ja aber zunächst ganz und gar ein Teil der Gebärdensprache.» (1888: 256) Nachdem diese Hypothese für lange Zeit in den Hintergrund getreten und z.T. ausdrücklich verworfen worden war, erlebt sie in der jüngeren Vergangenheit ein eindrucksvolles Comeback. [11] Knapp zusammengefasst, zeichnen die Vertreter dieses Ansatzes das Bild einer Entstehung der heutigen Lautsprache in zwei Schüben. Vor ca. 5–7 Millionen Jahren begannen sich einige Primatenspezies aufzurichten, das Gehirnvolumen nahm zu und die Freisetzung der Hand ermöglichte die Konstruktion und den Gebrauch zunächst einfacher Werkzeuge, später auch die Entwicklung einer differenzierten gestischen Kommunikation. Vor etwa 200.000 Jahren begann sich die Sprache von dem bis dahin dominanten gestisch-visuellen Kanal auf den vokal-auditiven Kanal zu verlagern. Die Hände waren nun nicht mehr durch technische Manipulation und Kommunikation gleichzeitig beansprucht, sondern konnten sich auf die erstere spezialisieren. Diese ‹zweite Befreiung der Hände› (Corballis 1999: 145; Jäger 2010: 337) kam der Perfektionierung der Herstellung und des Gebrauchs von Werkzeugen zugute; es wurde möglich, Werkzeuge herzustellen oder zu gebrauchen und parallel dazu verbal zu kommunizieren.
Welche dieser Theorien richtig ist oder der Wahrheit zumindest näher kommt als ihre Konkurrenten, ist an dieser Stelle von sekundärer Bedeutung. Wichtiger ist, dass alle dem aufrechten Gang eine Zentralposition in der Humanevolution zuschreiben; und dass es sich dabei um die Zentralposition in einem deutlich anderen Gemälde handelt. Genauer: in einer deutlich anderen Geschichte. Zunächst müssen wir uns daran erin nern [Kap. 21], dass die Aufrichtung auf zwei Beine ein komplexer Vorgang war, der sich wohl nach mehreren vergeblichen Anläufen und in mehreren Etappen unter dem Druck äußerer Verhältnisse vollzog. Dass damit die Hände für gestische Kommunikation frei wurden, oder dass der folgende Umbau des Brustkorbes eine genauere Steuerung der Atemtätigkeit und damit auch artikuliertes Sprechen ermöglichte, lag nicht in einer vorgegebenen ‹Logik› der Entwicklung, sondern ergab sich kontingenterweise und setzte sich während vieler Jahrtausende durch, weil es biologisch nützlich war. Die Idee einer göttlichen Providenz oder eines der Natur inhärenten auf den Menschen als vernünftiges Wesen zulaufenden Programms, ist damit nicht ‹widerlegt›, sondern beiseite geschoben. Sie hat einfach keinen Platz in dem evolutionären Bild der Welt. Planlos und aus biologisch handfesten Gründen entstanden, hat die Sprache gleichwohl als Katalysator einer kulturellen Entwicklung fungiert, die unter vielem anderen auch die Dialoge Platons, die Dramen Shakespeares, die Aufsätze Einsteins und die Charta der Vereinten Nationen hervorgebracht hat.
27. Soziale Auf- und Abrichtung
Die Natur hat nun zwar die Tendenz, auch die Körper der Freien und Sklaven unterschiedlich auszubilden, die einen stark für die Verrichtung der notwendigen Arbeiten, die anderen dagegen aufrecht und
Weitere Kostenlose Bücher