Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
intendierten Steuerung der Gangart angesprochen werden. Tatsächlich dürfte es in allen Gesellschaften und Kulturen mehr oder weniger explizite Vorstellungen über die angemessenen Anlässe und Arten des Gehens, Stehens und Sitzens geben. Es wäre naiv zu glauben, dass es den Individuen sozial freigestellt sei, ob, wann, wo und wie sie (aufrecht) gehen, stehen oder sitzen. Die Körperhaltung wird durch Normen reguliert und Verstöße gegen diese Normen werden sanktioniert. Die nachfolgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; sie soll nur einen Eindruck von dem breit gefächerten normativen Instrumentarium zur Steuerung der Körperhaltung geben.
(1) Es beginnt damit, dass unterschiedlichen Körperhaltungen ein jeweils unterschiedlicher Wert beigelegt und dieser Wert dann verschie denen Positionen in der sozialen Hierarchie zugeordnet wird. Grundsätzlich gilt die aufrechte Haltung dabei als ein Zeichen höherer sozialer Positionen und der mit ihnen verbundenen Macht; die sozial unterlegenen Positionen werden analog durch eine nicht-aufrechte Haltung markiert. In der griechischen und römischen Antike scheinen solche Bewertungen stark ausgeprägt gewesen zu sein. So soll sich Kaiser Vespasian im Jahre 79 auf seinem Sterbebett aufgerichtet und die Worte «Ein Kaiser muß aufrecht sterben» (Sueton, Vesp. 24) gesprochen haben. Die Körperhaltung wird hier offensichtlich als ein Symbol für den sozialen Rang aufgefasst; und dieser Rang erfordert, die angemessene Haltung anzunehmen: Ein Kaiser «muss» aufrecht sterben! Wir haben es also mit einer sozialen Norm zu tun. Der entscheidende Regelungsbereich solcher Normen sind Interaktionen zwischen sozial ungleichen Individuen. Der sozial Unterlegene hat seinem Gegenüber oft durch eine Verbeugung, einen Kniefall oder vollständiges Niederwerfen den gebührenden Respekt zu erweisen. Diese Demuts- und Unterwerfungsgesten werden nicht nur im sozialen, sondern auch im religiösen Kontext gefordert: Vor einem Götterbild, einem Altar oder den personalen Repräsentanten der kirchlichen bzw. göttlichen Macht ist eine jeweils genau bezeichnete Körperhaltung einzunehmen. [20] Merkwürdigerweise kann unter bestimmten Voraussetzungen aber auch das Umgekehrte gelten: die sozial Unterlegenen haben zu stehen, während die Überlegenen sitzen. Dies gilt beispielsweise für königliche Audienzen; auch vor Gericht haben sich die anwesenden Personen bei der Urteilsverkündung von ihren Sitzen zu erheben. Doch so unterschiedlich die Vorschriften auch sein mögen, das durchgängige Ziel bleibt eine Entsprechung zwischen der Körperhaltung und dem Gefälle der sozialen Hierarchie. Im Gegenzug kann die aufrechte Haltung dann natürlich auch als ein Symbol der Nicht-Unterwerfung eingesetzt werden. In Kapitel 29 wird sich noch zeigen, wie im 18. Jahrhundert eine von den feudalen Verhaltensstandards abgesetzte genuin bürgerliche Körpersymbolik entwickelt wurde, an die auch die sozialen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts anknüpften.
(2) Spezielle Vorschriften für die Körperhaltung existieren zweitens im Hinblick auf die Ausübung bestimmter Rollen oder Berufe. Für den antiken Redner galten sehr detaillierte Regeln des Körpergebrauchs während seiner Tätigkeit, die natürlich auch eine aufrechte Haltung des Hauptes einschlossen. In seiner Institutio oratoria mahnt Quintilian seine Kollegen eindringlich zu einer kontrollierten Haltung ihres Kopfes: «Zur schönen Wirkung gehört, dass er zunächst aufrecht und natürlich gehalten wird; denn in einem gesenkten Kopf zeigt sich niedrige, in einem hoch gereckten anmaßende, im zur Seite geneigten energielose und im zu starren und steifen eine barbarisch-harte Gesinnung.» ( Inst. or. XI,3,68) Auch der Nacken «soll gerade stehen». Im Folgenden werden Anweisungen zu den Gebärden, zur Körperhaltung, zur Stellung der Füße, zum Stand, zum Gang etc. während der Rede gegeben. – Eine bis in die Gegenwart wirksame Zuchtstätte des aufrechten Ganges war und ist das Militär. Schon Bären und Menschenaffen pflegen sich zum Zweck des Kampfes aufzurichten, um die Imponier- und Drohqualität der körperlichen Aufrichtung nutzen und zugleich die vorderen Gliedmaßen als Waffen einsetzen zu können. Auch für die evolutionären Ursprünge des menschlichen aufrechten Ganges sind solche agonalen Interessen behauptet worden. Ob dies zutrifft, muss hier offenbleiben; außer Zweifel steht aber, dass Menschen sich, wie Bären und
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