Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Wenn wir den ersten Punkt überspringen und von der für das 19. Jahrhundert typischen Akzentuierung der martialischen Seite des ‹Kampfes ums Dasein› absehen, ist mit den Schritten zwei und drei ein Zusammenhang angesprochen, den wir bereits bei Gregor von Nyssa und Herder kennengelernt haben. Die Darwinisten entkoppeln ihn von der Idee eines Plans der Natur und geben ihm eine evolutionstheoretische Deutung. [9] Die körperliche Aufrichtung, der Umbau des Brustkorbes und die Verbesserung des Artikulationsvermögens werden jetzt in einen kausalen Zusammenhang gebracht. An die Stelle von Zielursachen, die nicht mehr unter den wissenschaftlich respektablen Erklärungsquellen rangieren, treten ‹Anpassungen›, die einen reproduktiven Vorteil im ‹Kampf ums Dasein› sichern, zugleich aber auch eine Sequenz von sekundären biologischen Prozessen auslösen können. Die aufrechte Haltung ist eine solche Anpassung und die effizientere Atemkontrolle ein solcher Sekundäreffekt. Das artikulierte Sprechen ist zu einer kausalen Nebenfolge des zweibeinigen Gehens geworden.
Mit den verbesserten Möglichkeiten zur Steuerung der Atemtätigkeit ist allerdings nur eine ‹technische› Voraussetzung des Sprechens gegeben, die ohne gesteigerte Intelligenz nutzlos geblieben wäre. Dass zwischen Sprache und Intelligenz ein Zusammenhang besteht, war natürlich auch im 19. Jahrhundert bekannt und Darwin selbst hatte eine Verbindung zwischen dem Gebrauch der Sprache und der Größe des Gehirns behauptet. (1871: 110) Während er dem aufrechten Gang dabei aber keine Rolle zugewiesen hatte, geschah dies bei Friedrich Engels zumindest indirekt. Das vermittelnde Glied ist natürlich die Arbeit: Die körperliche Aufrichtung befreite die Hände, ermöglichte dadurch technisches Manipulieren und setzte damit eine intellektuelle und vor allem soziale Dynamik in Gang, die zur Ausbildung der Sprache führte. Die Kooperation bei der Arbeit habe die sozialen Beziehungen gestärkt und die Menschen kamen dahin «daß sie einander etwas zu sagen hatten». (1876: 90) Den bei Engels angedeuteten Zusammenhang zwischen aufrechtem Gang, Werkzeuggebrauch, sozialer Kooperation, Sprache und Entwicklung der Intelligenz hat ein Jahrhundert später Leroi-Gourhan auf der Basis erweiterter empirischer Kenntnisse bestätigt. Werkzeuggebrauch und Sprache sind für ihn keine separaten Fähigkeiten, sondern schon auf der neurologischen Ebene eng miteinander verknüpft. (1980: 149, 268, 491) Aufgrund dieser engen organischen Verschränkung von Feinmotorik und Sprache (im Broca-Zentrum der linken Gehirnhälfte) als Manifestationen menschlicher Intelligenz setzt Leroi-Gourhan die Entstehung der Sprache sehr früh an: lange vor dem Auftreten des Homo sapiens. Für die gesamte nachfolgende zunächst biologische, dann soziale Entwicklung des Menschen konstatiert er eine enge Koevolution von Technik, Sprache, Gesellschaft und Intelligenz. – Die zentrale Leistung der Sprache wird in diesen und vielen ähnlichen Ansätzen in der durch sie ermöglichten Kommunikation kognitiver Gehalte gesehen, sowie in der damit verbesserten Handlungskoordination zwischen den Individuen. Ursprünglich mag es sich um die Kooperation bei der Jagd oder bei der Lösung technischer Aufgaben gehandelt haben; später ermöglichte die Sprache dann auch hochkomplexe Formen der Kooperation, wie wir sie in modernen Gesellschaften kennen. Einen anderen Akzent setzen demgegenüber neuere Theorien, die den sozialen Beziehungen innerhalb der jeweiligen Gruppe eine größere Bedeutung zuweisen. Mit Sprache könnten diese Beziehungen hergestellt und gefestigt werden; darin bestehe ihr adaptiver Wert. (Dunbar 1998a) Der Zusammenhalt von Affenpopulationen wird u.a. durch gegenseitiges Kraulen hergestellt; diese Methode stößt aber an Grenzen, wenn die betreffenden Gruppen zahlenmäßig anwachsen. Als die Gruppen, in denen unsere Vorfahren lebten, größer wurden, musste ein funktionales Äquivalent für das wechselseitige Kraulen gefunden werden; in der sprachlichen Kommunikation wurde es gefunden.
Wenn wir gelten lassen, dass damit die Frage nach dem ‹Warum?› der Sprache beantwortet ist, bleibt immer noch zu klären, wie sie entstand; aus welchen Formen vorsprachlicher Kommunikation sie sich beispielsweise entwickelte. Zwei Möglichkeiten werden in der Literatur diskutiert. Die erste besteht darin, die menschliche Sprache als eine Weiterentwicklung des akustischen Signalaustauschs unter Primaten
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