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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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vorderen Teil des Gehirns zurück. Die Mundöffnung komme dadurch dem weichen Gaumen und dem Kehlkopf näher; die Zunge werde kürzer, breiter, weicher und formbarer; ebenso die Lippen. «Da nun die geistige Anlage dahin strebt, die verschiedenen Empfindungen und Vorstellungen durch verschiedene Laute zu bezeichnen, so hängt nach meiner Meinung die Sprachfähigkeit mit der aufrechten Stellung zusammen, und diese ist nur eine Folge der höheren Entwickelung des Gehirnes, welche wieder nur Ausdruck einer allgemeinen höheren inneren Anlage und ihres Verhältnisses zum Erdkörper ist.» (1876b: 325) Wie Lamarck postuliert auch von Baer eine durchgängige Richtung, ein Programm der Natur; und beide weisen psychischen Ursachen die entscheidende kausale Rolle zu. Es ist der Geist, der den Körper vom Boden aufrichtet und sich damit die Möglichkeit verschafft, seine Gedanken sprachlich zu formulieren.
    Als von Baer seine Ansichten veröffentlichte, waren er und seine Mitstreiter bereits in der Defensive. Die Delegitimierung der von ihm vertretenen Erklärungsprinzipien war philosophisch seit langem vorbereitet, in der Physik bereits im 17. Jahrhundert vollzogen und schritt nun auch in der zeitgenössischen Biologie rasch voran. Wir haben diese Entwicklung oben im Zusammenhang mit der Evolutionstheorie Darwins [Kap. 21] und der Anthropologie Lotzes [Kap. 22] skizziert. Auch vormals ‹höhere› Fähigkeiten wie Sprache und Intelligenz wurden nun als biologische Merkmale betrachtet, die sich erstens genauso natürlich entwickelt haben wie die körperlichen, und zweitens ebenso handfeste Funktionen erfüllen wie diese. Dies blieb nicht ohne Folgen für die Rationalitätsbedingungen der Sprachtheorie, wie an einer Stelle in Heymann Steinthals Abriß der Sprachwissenschaft schlaglichtartig deutlich wird. Es geht um die aufrechte Stellung des Menschen und Steinthal beschreibt sie so: «In ihr liegt eine Befreiung vom Erdboden. Das Streben nach ihr kann man durch das ganze Tierreich verfolgen. Je niedriger die Entwicklungsstufe des tierischen Leibes, desto mehr ist die Gestalt der Erde zugewendet, und die untersten Stufen sind sogar, wie die Pflanzen, am Boden angeheftet. Aufwärts steigend wird der Kopf immer höher und damit beweglicher, freier.» An dieser Stelle hält der Verfasser inne und scheint sich zu besinnen. Das eben zu Papier Gebrachte hätte ein Jahrhundert zuvor auch von Herder geschrieben werden können und Karl Ernst von Baer hätte ihm seine Zustimmung nicht verweigert. War es wirklich das, was er hatte sagen wollen? Offenbar nicht, denn in dem unmittelbar anschließenden Satz vollzieht Steinthal eine entscheidende Wende: «Wir wollen jedoch hier nicht Teleologie und Ästhetik treiben; rein causale Betrachtung wollen wir anstellen.» (1881: 340f.) Die Rede von einem das ganze Tierreich durchziehenden Streben nach der Befreiung vom Erdboden erscheint jetzt als teleologisch und ästhetisch: und damit als wissenschaftlich nicht mehr zulässig. An anderer Stelle, in einer späten Auflage seiner Schrift über den Ursprung der Sprache, kommt er auf diesen wissenschaftstheoretisch zentralen Punkt noch einmal zurück. Er erinnert an die oben zitierte Passage, in der von Humboldt die Passung der aufrechten Stellung zum «Sprachlaut» hervorhebt, und kontrastiert sie mit den Ausführungen darwinistisch argumentierender Autoren seiner Zeit. Dabei charakterisiert er von Humboldts Betrachtungsweise als «ästhetisch», die der Darwinisten hingegen als «causal». (1888: 256) Er diagnostiziert also nicht nur einen Gegensatz zweier wissenschaftstheoretischer Paradigmen, sondern postuliert für das 19. Jahrhundert zugleich einen historischen Übergang von dem einen zum anderen Paradigma.
    Was aber heißt ‹kausale Erklärung› im Rahmen der Evolutionstheorie? Insbesondere wenn es um die Entstehung der Sprache und um die Rolle des aufrechten Ganges in ihr geht? Nach den von Steinthal angeführten zeitgenössischen Autoren hat sich die Evolution der Sprache, kurz zusammengefasst, in drei Schritten vollzogen. Zunächst haben sich die (Proto-)Menschen im ‹Kampf ums Dasein› aufgerichtet. Dies geschah vor allem zu kriegerischen Zwecken; die aufrechte Haltung ist eine Kampfposition. Zweitens erzwang diese neue Haltung auf Dauer einen massiven Umbau des Brustkorbes, den Atemapparat eingeschlossen. Dadurch wurde drittens eine feinere Steuerung der Atemtätigkeit möglich, die dann zum artikulierten Sprechen geführt hat. –

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