Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
‹Haltung› wiedergegeben, sind sie mehr oder weniger konstant über die Zeit und invariant gegenüber unterschiedlichen Situationen. Da sie zumindest teilweise das Produkt des jeweils eigenen Handelns sind, bringen sie die innere Verfasstheit des betreffenden Individuums zum Ausdruck. Auch der aufrechte Gang ist eine solche (naturgegebene) Möglichkeit und in der Art und Weise ihrer Realisierung bildet und manifestiert sich eine für das betreffende Individuum charakteristische ‹Haltung›. – Charakteristisch aber nicht nur für das betreffende Individuum. ‹Haltungen› haben eine überindividuelle Dimension. Sie verweisen auch auf das soziale oder regionale Herkommen der betreffenden Person und damit auf allgemeine Lebenslagen. Im Fall der Madame Chauchat macht der Erzähler ausdrücklich darauf aufmerksam, wenn er die Differenz ihrer Sitzhaltung zu der der «Frauen in Hans Castorps heimischer Sphäre» anspricht. Sie erweist sich mehr und mehr als eine nicht nur räumlich-regionale, sondern als eine kulturellweltanschauliche Differenz. Madame Chauchats eigentümliche Gangart repräsentiert in Manns Roman eine erschlaffte Lebensform, für die Hans Castorp, wie wir an seinen Nachahmungsversuchen am Tisch sehen konnten, anfällig ist. Und nicht nur er, sondern die ganze Gesellschaft, die der Roman beschreibt.
Auch dies ist im täglichen Leben nicht anders: Wie eine Person geht und steht, gibt Aufschluss über ihre Herkunft, ihren Status, ihre Lebenslage. Die ‹Haltung› weist über das Individuum hinaus, das sie hat. Sie verweist auf das historische, kulturelle, soziale Umfeld dieses Individuums. Das menschliche Gehen oder Stehen ist also kein bloß natürliches Phänomen. Die Brüder Weber hatten in ihrer Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge eingeräumt, dass «wir keine Gehmaschinen sind» und dass unser Gehen und Laufen daher «durch die Freiheit unseres Willens sehr mannichfach abgeändert werden» kann. (1836: v) Richtig ist daran, dass es nicht allein mechanische oder andere Naturgesetze sind, die unsere Körperhaltung und Fortbewegung determinieren. Der Hinweis auf die Willensfreiheit greift aber zu kurz, um die Fülle weiterer Faktoren auch nur anzudeuten, die dabei eine Rolle spielen; greift vor allem darin zu kurz, dass er soziale Determinanten unberücksichtigt lässt. Wie die meisten körperlichen Verrichtungen ist auch der aufrechte Gang eine soziale Praxis. Dazu wird er vor allem in seinem öffentlichen Vollzug. Thomas Manns Schilderung gibt die Wahrnehmung des Gehens und der Haltung von Madame Chauchat durch die soziale Außenwelt wieder; namentlich die Wahrnehmung Castorps, aber auch die aufmerksame, geradezu diagnostische Wahrnehmung des Hofrats. Wir gehen und stehen aufrecht nicht nur in einem physikalischen oder biologischen, sondern auch in einem sozialen Raum, der (unter anderem) durch die Blicke anderer Menschen konstituiert ist. Aber wir gehen und stehen nicht nur unter der Beobachtung anderer, wir wissen es auch. Wir wissen, dass wir in einem sozialen Raum gehen und stehen, dass uns die Blicke anderer Menschen ständig begleiten. Dieses ‹Wissen› muss uns nicht in jedem Augenblick präsent sein; und es muss nicht intentional genutzt werden. Im Fall der Madame Chauchat lässt der Roman aber keinen Zweifel daran, dass ihrem Auftritt im Speisesaal eine sorgfältige Inszenierung zugrunde liegt. Die regelmäßige Verspätung, das regelmäßige Zuschlagen der Glastür und der Griff ans Haar, bevor sie sich am guten Russentisch niederlässt sind keine sich wiederholenden Zufälle. Das (in ihrem Namen schon signalisierte) katzenhaft Schleichende ihres Gangs, der schlaffe Rücken und der vorgeschobene Kopf sind nicht nur individuelle Marotten, sondern Teile einer öffentlichen Präsentation und damit Elemente eines sozialen Prozesses. Die Gangart repräsentiert eine Lebensform.
Wenn wir fragen, wie es zu einem solchen sozialen Charakter der aufrechten Haltung kommt, sind zwei verschiedene Wege zu unterscheiden. Der erste ist informell. Eine Person wächst in einer bestimmten Umgebung auf und nimmt unbewusst und ungewollt eine dieser Umgebung entsprechende Haltung an. Im Fall der Madame Chauchat wird Asien als der Boden identifiziert, auf dem ihre schlaffe Haltung und ihr schleichender Gang erwuchsen. Andere Möglichkeiten informeller, nicht-intentionaler Prägungen der Gangart werden später noch erkennbar werden. – Hier sollen zuvor die Mechanismen einer direkten, formellen und
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