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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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untauglich für solche Tätigkeiten, jedoch tauglich für eine politische Existenz …
Aristoteles
    Der Mensch, so haben wir erfahren, richtet sich auf: sei es aus Gründen der Mode, wie Moscati behauptet hatte; sei es, weil ihn seine Umgebung von klein auf dazu anhält; oder sei es, um seine Geschlechtsorgane zur Schau zu stellen. Das alles sind soziale Gründe. Doch wie weit reichen sie? Beschränkt sich ihre Wirkung auf den Übergang von der vierfüßigen zur zweifüßigen Gangart oder erstreckt sie sich auch auf die Art und Weise wie wir aufrecht gehen? Gibt es überhaupt ‹den› aufrechten Gang? Zweifel daran sind angebracht, denn wann immer ein Mensch tatsächlich aufrecht geht, handelt es sich um einen bestimmten Menschen, der sich auf bestimmte Weise durch einen bestimmten Raum bewegt. Es kann sich beispielsweise um einen Steinzeitmenschen im Fellkleid handeln, der sich beim Sammeln von Nahrungsmitteln durch eine buschige Landschaft bewegt; um einen Bankangestellten, der in Nadelstreifen auf dem morgendlichen Weg ins Büro durch die Straßen einer Großstadt eilt; oder um Madame Chauchat, die den Speisesaal eines schweizerischen Sanatoriums betritt. Sie alle gehen aufrecht; aber sie tun es auf verschiedene Weise. Richten wir unseren Blick auf die Letztere, nachdem sie mit lautem Klirren die berühmte gläserne Tür hat zufallen lassen und nun durch den Saal ihrem Platz zustrebt: «Sie ging ohne Laut, was zu dem Lärm ihres Eintritts in wunderlichem Gegensatz stand, ging eigentümlich schleichend und etwas vorgeschobenen Kopfes zum äußersten Tische links …» (Mann 1924: 118) Wir nehmen durch die Augen des Erzählers nicht irgendeine, sondern eine bestimmte Person in einer bestimmten Umgebung wahr; und vor allem: eine bestimmte Weise (aufrecht) zu gehen. Der Erzähler lässt im weiteren Fortgang keinen Raum für die Illusion, eine solche Wahrnehmung könnte harmlos und unschuldig sein. Zu oft und zu einprägsam kommt er immer wieder auf die Gangart der Dame zurück. Die «Schlaff heit ihres Rückens, die vorgeschobene Haltung ihres Kopfes» (346) wird erwähnt und Hofrat Behrens fragt Hans Castorp: «Haben Sie sie schon einmal gehen sehen? Wie sie geht, so ist ihr Gesicht. Eine Schleicherin.» (390) Es ist nicht nur ihr Gang; auch nicht nur ihr Gesicht; ein Vortrag gibt Castorp Gelegenheit, auch ihr Sitzen zu beobachten: «Wie schlecht sie sich hielt! Nicht wie die Frauen in Hans Castorps heimischer Sphäre, die aufrechten Rückens den Kopf ihrem Tischherrn zuwandten, indes sie mit den Spitzen der Lippen sprachen. Frau Chauchat saß zusammengesunken und schlaff, ihr Rücken war rund, sie ließ die Schultern nach vorne hängen und außerdem hielt sie auch noch den Kopf vorgeschoben, so dass der Wirbelknochen im Nackenausschnitt ihrer weißen Bluse hervortrat.» (191) So unangenehm berührt Castorp von dieser Erscheinung auch ist, nach und nach gerät er unter ihren Einfluss: «Er versuchte, wie es sei, wenn man bei Tische zusammengesunken, mit schlaffem Rücken dasäße, und fand, dass es eine große Erleichterung für die Beckenmuskeln bedeute.» (348) –Wenden wir uns von den castorpschen Beckenmuskeln ab und den allgemeinen Gang- und Haltungsfragen zu, die hier angesprochen werden.
    Der aufrechte Gang kann offenbar sehr unterschiedliche Ausprägungen annehmen. In Fällen wie dem der Madame Chauchat zieht die bestimmte Art seiner ‹Ausführung› unsere Aufmerksamkeit auf sich, die Haltung im Stehen oder Sitzen mit einbegriffen. Thomas Mann schildert ihre besondere Gangart und ihre besondere Körperhaltung so eindringlich, weil sie etwas bedeuten: Sie signalisieren dem Leser zunächst etwas über den individuellen Charakter der Dame. Das ist im Roman nicht anders als im täglichen Leben, wo wir von der Haltung einer Person auf ihre persönlichen Eigenschaften zu schließen gewohnt sind. Schon in der Antike ging man davon aus, dass im Äußeren der Person ihre innere Verfassung zum Ausdruck kommt; dass daher umgekehrt von ihrem Äußeren auf ihr Inneres geschlossen werden kann. Der Mensch verfügt über eine Reihe von (naturgegebenen) Handlungsmöglichkeiten, die nicht von selbst realisiert werden, vor allem nicht in der bestmöglichen Weise. Die Individuen wirken an der Realisierung dieser Möglichkeiten mit und tun dies verschieden und verschieden gut. Für die auf diese Weise entstehenden Verhaltensdispositionen wurden die Begriffe ‹hexis› oder ‹habitus› verwandt. Im Deutschen mit

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