Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
will nicht dumpf am Boden verhallen, sie verlangt, sich frei von den Lippen zu dem, an den sie gerichtet ist, zu ergiessen, von dem Ausdruck des Blickes und der Mienen, so wie die Geberde der Hände, begleitet zu werden, und sich so zugleich mit Allem zu umgeben, was den Menschen menschlich bezeichnet.» (1827: 66) Misstrauisch macht hier natürlich, dass die Sprache etwas «will» und etwas «verlangt»; sowie die Idee einer Passung zwischen Sprachlaut und aufrechter Haltung. Sofern wir diese Formulierungen ernst nehmen und nicht als eine bloße façon de parler auffassen, machen sie nur auf der Basis einer Metaphysik Sinn, die der Welt eine innere Ordnung und den Dingen eine innere Strebenstendenz zuschreibt. Die in dem ‹Wollen› und ‹Verlangen› der Sprache angedeutete Residualteleologie produziert eine Welt, deren Elemente zueinander ‹passen›. So entspricht die aufrechte Haltung dem Sprachlaut. Man beachte die Passungsrichtung: Als Ausdruck der Operationen des Geistes kommt dem Sprachlaut wie selbstverständlich der Primat zu: Die Körperhaltung muss ihm entsprechen. – Auf der anderen Seite verabschiedet von Humboldt, wie schon vor ihm Herder, den traditionellen Instrumentalismus der Sprache. Sie ist für ihn nicht mehr der bloße Ausdruck fertiger Gedanken, sondern aktiv an ihrer Bildung beteiligt. Die vormals souveräne Vernunft muss sich ihre Herrschaft fortan mit der Sprache teilen. Diese Idee solcher Wechselwirkungen wird einige Jahrzehnte später zu einer zentralen Voraussetzung evolutionärer Erklärungen der Sprachgenese werden.
Der Weg dahin war allerdings mühsam. Dies zeigt sich an den Ansichten zweier prominenter Biologen über den Zusammenhang zwischen dem aufrechten Gang und der Sprache. Der erste von ihnen war Lamarck. Wir haben gesehen, dass die körperliche Aufrichtung in seinen recht knappen Ausführungen zur Humanevolution den entscheidenden Umschlagspunkt markiert, weil die Protomenschen durch sie zu Zweihändern wurden und die Vorherrschaft gegenüber den anderen Tieren gewannen, die Erde in Besitz nehmen und sich vermehren konnten. Die dadurch erlangte herrschende Stellung wird dann zum Auslöser der Sprachentwicklung: Denn «indem sie ihre Bedürfnisse in dem Masse als die Gesellschaften, die sie bildeten, zahlreicher wurden, beträchtlich vermehrten, so haben sie in gleicher Weise ihre Gedanken vervielfältigen und in Folge dessen das Bedürfnis empfinden müssen, sie ihresgleichen mitzutheilen. Man begreift, dass sich hieraus für sie die Nothwendigkeit ergeben haben wird, die für die Mitteilung dieser Gedanken passenden Zeichen zu vermehren und zu vermannigfaltigen.» (1809: 193) Lamarck behauptet offenbar folgende Ereignisfolge: zunächst aufrechter Gang, dann herrschende Stellung des Menschen, dann Vergrößerung der Population, dann Vermehrung der Bedürfnisse, dann Vermehrung der Gedanken, schließlich das gesteigerte Bedürfnis zum sprachlichen Ausdruck dieser Gedanken. Die Wurzeln der Sprache liegen also in der körperlichen Aufrichtung. Abgesehen davon, dass diese Erklärung viele Einzelheiten offen lässt, macht sie zwei Voraussetzungen, mit denen sie sich derselben Umbruchs- und Übergangsperiode zugehörig zu erkennen gibt, der auch Herder und von Humboldt angehören. Zum einen unterstellt sie eine der organischen Natur innewohnende orthogenetische Tendenz. Der Mensch entwickle sich, wie andere Organismen auch, in eine vorgegebene Richtung und ‹verbessere› sich dabei fortwährend. Zum zweiten bürdet Lamarcks Theorie psychischen Faktoren die zentrale Erklärungslast für diese organischen Veränderungen auf. Es seien immer die «Bedürfnisse» der Organismen, die sie zu Willens- und Strebensäußerungen trieben, die dann körperliche Veränderungen herbeiführten. «Es werden also in dieser Hinsicht die Bedürfnisse allein Alles gemacht haben: sie werden die Anstrengungen hervorgerufen haben, und die für die Articulation der Laute geeigneten Organe sich durch ihren gewohnheitsmässigen Gebrauch entwickelt haben.» (194) Die handfesten biologischen Vorteile, die mit dem aufrechten Gang oder der Sprache verbunden sind, ergeben sich aus der körperlichen Transformation, treiben sie aber nicht voran. – Auf dieselben Voraussetzungen stoßen wir bei Karl Ernst von Baer, dessen Deutung des Zusammenhangs zwischen Hirngröße und Körperhaltung wir bereits kennen. Durch die vom Gehirn bewirkte Aufrichtung verkürze sich beim Menschen der Kiefer und trete unter den
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