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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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an dem äussern Rande abläuft.» (1860: 173f.) Wir müssen nicht fragen, woher Schaaffhausen seine Kenntnisse über die Gangart der «Neger» und über den Verschleiß ihrer Schuhe hatte, denn es handelte sich allzu offenkundig um Vorurteile und Projektionen. [25]
    Nun sind aber auch Ideologien nicht immer komplett aus der Luft gegriffen. Es ist gut vorstellbar, dass einzelne Sklaven, die Aristoteles vor Augen hatte, tatsächlich eine eher gebückte, einzelne Freie hingegen eine eher aufrechte Körperhaltung hatten. Es hat ja nichts Überraschendes, dass der Habitus von Menschen von den sozialen Normen beeinflusst ist, unter denen sie leben; und vor allem: dass er von ihren objektiven Lebensbedingungen beeinflusst ist. Wenn Sklaven schwere körperliche Arbeit zu verrichten hatten, wird man nicht ausschließen können, dass sich dies auch in einer dem griechischen Ideal nicht entsprechenden Körperhaltung niederschlug. Dem aristotelischen Verdikt läge dann eine ideologische Vertauschung von Ursache und Wirkung zugrunde: Die betreffenden Individuen waren nicht Sklaven, weil ihre Körperhaltung schlecht war; sie hatten eine schlechte Körperhaltung, weil sie Sklaven waren. – Damit kommen wir auf den ersten der oben angesprochenen Mechanismen gesellschaftlicher Einwirkung auf den Körper zurück. Neben den normativen Faktoren, die ideologischen eingeschlossen, wirken auch faktische soziale Faktoren auf die Haltung und Fortbewegungsweise ein. Die soziale Lage eines Individuums, seine Arbeits- und Lebensweise, kann auf vielfältige Weise die Morphologie seines Körpers beeinflussen. So notiert Jean La Bruyère in seiner Aphorismensammlung Charaktere oder die Sitten des Jahrhunderts unter dem Titel «Mensch» eine Beobachtung, die auf sozial produzierte körperliche Ungleichheiten aufmerksam macht: «Auf dem Feld kann man gewisse menschenscheue Tiere männlicher und weiblicher Art sehen; sie sind schwarz, fahl und von der Sonne ganz verbrannt, über die Erde gebeugt, die sie mit einer unbesieglichen Hartnäckigkeit durchwühlen; sie haben etwas wie eine artikulierte Stimme, und wenn sie sich aufrichten, zeigen sie ein menschliches Antlitz; und sie sind auch wirklich Menschen. Nachts ziehen sie sich in Schlupfwinkel zurück, wo sie von schwarzem Brot, Wasser, Wurzeln leben; sie ersparen den übrigen Menschen die Mühe, zu säen, den Boden zu bestellen und die Früchte zu ernten, und würden verdienen, dass sie des Brotes nicht ermangeln müssen, das sie gesät haben.» (1688: 304) Der Verfasser wählt eine kühle, diagnostische Beschreibungsart, wie sie für einen Naturforscher des 17. Jahrhunderts charakteristisch gewesen sein mag, der eine bislang unbekannte Tierart beschreibt; und nutzt diesen Verfremdungseffekt für eine sozialkritische Botschaft, die in der Schlussformulierung ausgesprochen wird. Seine sorgfältige Beschreibung evoziert das Bild von entfernten Wesen, die vielleicht aus einer Kutsche beobachtet werden und nicht zu identifizieren sind. Abgesehen von ihrer Farbe wird ihre gebeugte Körperhaltung hervorgehoben und mit ihrer Tätigkeit in Zusammenhang gebracht. Die Pointe der Beschreibung besteht darin, dass sie als Menschen erst dann erkennbar werden, «wenn sie sich aufrichten» und ihre Arbeit unterbrechen.
    Was La Bruyères Bild uns allerdings nicht zeigt, ist: dass diese Bauern auch aufgerichtet nicht in derselben Weise aufrecht sind, wie wir es bei einem Adeligen derselben Epoche annehmen können. Auch jenseits ihrer gebückten Arbeit werden ihre Haltung und Bewegung die Prägungen durch diese Arbeit nicht abschütteln können und ihre Folgen erkennen lassen. Ein Bauer des 17. Jahrhunderts geht und steht anders als ein zeitgenössischer ‹Herr›. Der Körper des einen ist ebenso ein Produkt seiner Klassenlage wie der Körper des anderen und spiegelt diese Lage in den Nuancierungen der Körperstruktur und des Körpergebrauchs wider. – Es wäre naiv, diese Differenzierungen für ein Phänomen der Vergangenheit zu halten. Für die Gegenwart hat Pierre Bourdieu die «feinen Unterschiede» zwischen den sozialen Klassen nachgezeichnet und dabei auch die körperlichen Unterschiede nicht übersehen. Er greift die antike Kategorie des ‹habitus› auf und gibt ihr eine soziologische Bedeutung, die auch die in den unterschiedlichen sozialen Klassen differenten Arten, den Körper zu pflegen, zu ernähren und zu gebrauchen einschließt. Seine These besagt, «dass der Körper die unwiderlegbarste

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