Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Beispiel liefert. In seiner «Orthobiotik» spielt die Erziehung zur aufrechten Haltung eine zentrale Rolle. [23] Für schwierige Fälle ersinnt er Geräte und Übungen, die der Aufrichtung der Kinder dienlich sein sollen.
Abb. 9: «Die Brücke», Übung zur Perfektionierung der aufrechten Haltung.
Auffällig ist, dass alle diese Typen der Normierung direkt oder indirekt mit sozialen Differenzierungen verbunden sind. Die Gesellschaft wendet erhebliche Sorgfalt auf, um die Individuen zu einer ihrem jeweiligen sozialen Rang oder ihrer jeweiligen Rolle angemessenen Körperhaltung zu bringen. Selbst dort, wo die ‹richtige› Körperhaltung eine Basis in der situations- oder aufgabenspezifischen Funktion haben mag, wird diese von sozialen Differenzierungsinteressen überlagert. Dies sollte nicht überraschen! Soziale Verhältnisse sind immer Verhältnisse sozialer Ungleichheit und diese Ungleichheit wird immer auch äußerlich markiert. Die Normierung der Körperhaltung und Fortbewegungsweise ist nur eine Weise, dies zu tun. In der Regel ist sie nicht die wichtigste Art der äußeren Markierung sozialer Ungleichheit und bleibt eher dezent im Hintergrund. Gelegentlich tritt diese Markierung aber auch unverblümt, wenn nicht brutal zutage. Ein Beispiel dafür liefert Aristoteles in seiner Politik. In der Absicht, die Sklaverei zu rechtfertigen, unterscheidet er hier zwischen Menschen, die «von Natur aus» Freie und anderen Menschen, die «von Natur aus» Sklaven seien. Dabei kommt er auch auf den «natürlichen» Körperbau zu sprechen, der sie sichtbar unterscheide: «Die Natur hat nun zwar die Tendenz, auch die Körper der Freien und Sklaven unterschiedlich auszubilden, die einen stark für die Verrichtung der notwendigen Arbeiten, die anderen dagegen aufrecht und untauglich für solche Tätigkeiten, jedoch tauglich für eine politische Existenz …» Aristoteles muss allerdings einräumen, dass der Natur häufig Fehler unterlaufen, so dass die Seelen und Körper der Individuen einander nicht entsprechen. «Jedoch ist folgendes unumstritten: Angenommen, einige wären nur körperlich so sehr überlegen, wie es die Standbilder von Göttern sind, dann dürfte jeder sagen, dass die dahinter Zurückbleibenden verpflichtet wären, jenen wie Sklaven zu dienen.» [24] Hier wird den Sklaven nicht eine Körperhaltung vor geschrieben, sondern zu geschrieben; und diese (vorgeblich deskriptive) Zuschreibung dann als Legitimationsgrund für ihren Status genommen. Wir haben keinen Grund für die Annahme, dass die natürliche Körperhaltung von Freien und Sklaven im antiken Griechenland tatsächlich verschieden war; Aristoteles räumt dies ja auch ein, wenn er bemerkt, «häufig» verhalte es sich de facto nicht so, wie es «von Natur aus» sein sollte. Die behaupteten Differenzen müssen daher im Auge des Betrachters gelegen haben; sie können als Projektionen sozialer Vorurteile und als eine Legitimation von Ausbeutungsverhältnissen erklärt werden.
Eine ähnliche ideologische Strategie finden wir zwei Jahrtausende später bei dem Anthropologen Hermann Schaaffhausen. Nur sind es jetzt nicht mehr Sklaven, sondern «Neger», die dem Haltungs-Verdikt verfallen. Wo er «die niedern Rassetypen» beschreibt, weiß Schaaffhausen eine lange Liste von Merkmalen aufzuzählen, an denen ihre Inferiorität zu erkennen sei: Eine zurückweichende Stirn, eine kleinere Schädelhöhle und weniger Windungen des Gehirns gehören natürlich dazu, erschöpfen die Liste aber nicht. Es folgt, was wir schon ahnen: «Viele dieser Merkmale sind nur Folgen des noch nicht ganz aufrechten Ganges. In der That geht der Neger vorüber geneigt, sein Rücken gleicht dem des Affen, der nur eine Krümmung hat, indem die Einbiegungen, welche die Wirbelsäule des Europäers auszeichnen, bei ihm nur wenig entwickelt sind … Der Gang des Negers ist noch schleichend; je kräftiger der Fuß aufgesetzt wird, um so voller spannt sich die Wade, und um so mehr wölbt sich der knöcherne Bogen des Fusses; die edlere Menschengestalt scheint im leicht gehobenen Schritte vollends den Boden zu fliehen. Der Orangutang geht im wilden Zustande selten aufrecht, seine Vorderhand dient noch als Fuss, wenn er am Boden geht, sein Fuss ist eine Hand mit einer Ferse. Der Gorilla-Affe berührt beim Gehen nur mit den Fingern der Hand den Boden; die Füsse werden nicht mit der Fläche, sondern mehr mit dem äussern Rande aufgesetzt. So geht auch noch der Neger, welcher seine Schuhe immer
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