Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Vorderfüße zur Unterstützung gegeben hat; denn die beiden Hinterfüße müssen notwendigerweise alle laufenden Tiere besitzen. Diese Tiere wurden aber Vierfüßer, weil ihre Seele die Last nicht tragen konnte.» ( Part. anim. IV,10 686a24–686b1) – Betrachten wir das Zitat näher, so enthält es vier Aussagen, die für uns interessant sind. Zunächst geht aus dem Kontext hervor, dass der Mensch eine biologische Art ist, die mit denselben Kategorien und Methoden erfasst werden kann wie andere biologische Arten auch. Dabei zeigt sich allerdings erstens, dass er sich durch den aufrechten Gang von den anderen blutführenden und lebendgebärenden Tieren buchstäblich ‹abhebt›. Zweitens wird dies in einen nicht näher ausgeführten Zusammenhang mit der «göttlichen» Beschaffenheit des Menschen gebracht. Drittens besteht die besondere Leistung eines göttlichen Wesens im «Denken und Verständigsein». Schließlich wird viertens behauptet, dass diese Leistung durch die aufrechte Körperhaltung gefördert wird.
Auf das göttliche Wesen des Menschen und auf sein Denken und Verständigsein werden wir noch zurückkommen. Einstweilen gilt es festzuhalten, dass Aristoteles die aufrechte Haltung als ein solitäres Merkmal einführt: Der Mensch steht «als einziges Lebewesen» aufrecht. Bevor wir diese Aussage als eine Selbstverständlichkeit vermerken, sollten wir uns klarmachen, dass sie das nicht ist. Denn sowohl von Seiten der senkrecht wachsenden Bäume und Pflanzen, als auch von Seiten der zweibeinigen Vögel droht dem Menschen Konkurrenz. Aristoteles greift nun die bei Platon begonnene Kritik an den Bäumen auf und verallgemeinert sie, indem er ihr eine biologische Wendung gibt. Jedes Lebewesen ist demnach auf Nahrung angewiesen, die es über den Mund aufnimmt; dieser hat seinen Platz am Kopf; und dieser wiederum ist natürlicherweise oben positioniert. Die räumliche Struktur der Lebewesen ist für Aristoteles also nicht einfach topologisch, sondern funktional definiert. «Von wo aus nämlich bei jedem einzelnen von den lebenden Wesen die Verteilung der Nahrung und das Wachstum erfolgen, das ist oben; der Teil aber, zu dem dies zuletzt gelangt, ist unten.» ( Inc. anim. 705a33–b1) Nach dieser funktionalen Definition von ‹oben› und ‹unten› kann bei Pflanzen von einer aufrechten Stellung nicht mehr die Rede sein, denn es sind die topologisch unten befindlichen Wurzeln, die bei ihnen die Funktion des Mundes und des Kopfes erfüllen, während der Samen oben am Ende der Zweige wächst. Pflanzen sind und leben nach Aristoteles daher ebenso verkehrt, wie sie es bei Platon taten, da sich bei ihnen «das Obere unten und das Untere oben» ( Part. anim. IV,10 686b34) befindet. – Bei den Vögeln liegen die Dinge ein wenig anders, denn von ihnen kann man schlecht behaupten, sie ernährten sich über ihre unteren Körperteile. Aber deshalb haben sie noch keinen wirklich ‹aufrechten› Körperbau. Sie sind zwar zweibeinig, aber nicht «gerade» gewachsen und stehen nicht. (IV,12 695a1–16; ausführlicher Inc. anim. 704a17ff.) Damit bestätigt auch Aristoteles, dass ‹aufrechter Gang› nicht dasselbe wie ‹Zweifüßigkeit› ist. Es geht nicht um die Zahl der Füße, sondern um ein qualitatives Merkmal, das noch näher zu charakterisieren sein wird. Wir können nur spekulieren, ob Aristoteles die Pinguine als einen Gegenbeweis akzeptiert hätte, wenn ihm ihre Existenz bekannt gewesen wäre. Wohl eher nicht! Denn dass der Mensch «als einziges Lebewesen» aufrecht ist, gehört nicht zu den entbehrlichen Stücken seiner Anthropologie.
Aristoteles kommt also zu demselben Resultat wie Platon, erreicht es aber auf einem anderen, stärker naturwissenschaftlich orientierten Weg. Diese Tendenz setzt sich in dem letzten Punkt des oben angeführten Zitats fort. Es betraf die günstige Verteilung des Körpergewichtes, die das Denken erleichtere. Die Tiere besitzen diesen Vorzug nicht. Da sie nicht aufrecht sind, werden sie von ihrer Körpermasse zur Erde gebeugt und auf diese Weise zu Vierfüßern. Aristoteles identifiziert also eine anatomisch-physiologische Voraussetzung der menschlichen Rationalität, die der Ausdruck seines «göttlichen Wesens» ist. Denn wirksam wird das göttliche Wesen durch Denken und Verständigsein. Die körperliche Gestalt fungiert hier als ein kausaler Faktor: durch sie werden Druckverhältnisse geschaffen, die das Denken entweder fördern (wie beim Menschen) oder behindern (wie beim
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