Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
wie Organe auf das Ganze hin geordnet sind und eine Funktion in ihm erfüllen. Als Bezeichnung für diese Welt hatte sich schon in der vorsokratischen Ära der Begriff Kosmos durchgesetzt, der mehrere miteinander verbundene Bedeutungen hatte: ‹Schmuck›, ‹Schönheit›, ‹zweckvolle Ordnung› oder auch ‹Schlachtordnung›. Die Welt ist demnach keine Gesamtheit neutraler Tatsachen und kontingenter Prozesse, sondern eine sinnvolle und schöne Ordnung, die nur auf das planvolle Walten einer Vernunft zurückgeführt werden kann. In einem ‹Kosmos› sind daher Fakten und Werte nicht voneinander geschieden: Was ist, ist zugleich auch gut. Wichtig ist für uns drittens, dass auch der Mensch ein Teil des Kosmos ist, denn damit ist eine bestimmte anthropologische Konzeption präjudiziert. Zum einen erscheint der Mensch in ihr als ein notwendiger Teil der kosmischen Ordnung; diese wäre ohne ihn unvollständig und unvollkommen. Zum anderen ist der Mensch auf einen bestimmten Platz in der Welt verwiesen; er hat eine Funktion in ihr wahrzunehmen. Als ein solches ‹Organ› des kosmischen Organismus ist er von Natur aus auf eine bestimmte Weise ein- und ausgerichtet.
Diese drei Thesen sind nicht spezifisch für Platon und seine Philosophie. Wir sind ihnen auch schon bei Ovid begegnet. Sie bilden den Kern einer Theorie über die Welt und den Menschen, deren Wirkung bis weit in die Neuzeit hineinreichen wird. Genauer gesagt: den Kern einer Theorienfamilie, die im Folgenden als kosmologisch bezeichnet werden soll, weil alle ihre Mitglieder die Welt als eine vernünftige, schöne, zweckmäßige, sinnvolle Ordnung deuten, als einen ‹Kosmos› eben. [15] Da ein solcher Kosmos notwendigerweise auch den Menschen umfasst, bieten die Familienmitglieder immer auch eine Kosmo-Anthropologie an: Eine Theorie des Menschen in seinen kosmischen Bezügen.
So auch das Werk von Aristoteles. Wir finden in ihm die drei genannten Thesen wieder; aber doch nicht genau so, wie sie sein Lehrer Platon vertreten hatte. Aristoteles nimmt Akzentverschiebungen vor, die sich schon damit andeuten, dass wir wichtige Aussagen über den Menschen, insbesondere über seinen aufrechten Gang, nicht in eine große kosmologische Erzählung à la Timaios eingebettet finden, sondern eher in naturwissenschaftlich ausgerichteten, vor allem biologischen Texten, die vor der Ausbreitung empirisch-kleinteiliger Befunde nicht zurückschrecken. In diesen Schriften wird der Mensch als ein materielles, empirisches, vergängliches Wesen dargestellt; als Glied einer ‹Kette der Wesen›, die mit unbelebten und einfachen Wesen beginnt und über belebte und zunehmend differenziertere Wesen fortschreitet, bis sie beim Menschen als dem vollkommensten und differenziertesten aller irdischen Lebewesen anlangt. Da jede dieser großen Klassen von Wesen (Mineralien, Pflanzen, Tiere, Mensch) als in sich hierarchisch gestaffelte Ordnung begriffen wird, so dass sich etwa die Stufe der Tiere in primitive Würmer, differenziertere Insekten und höhere Säugetiere gliedert – und jede von ihnen nahtlos an die folgende anschließt –, entsteht eine lückenlose scala naturae, deren Spitze der Mensch bildet. Er ist daher mit den übrigen Wesen mehr oder weniger eng verwandt und hebt sich von ihnen nur graduell ab. Die Stufenleiter ist kontinuierlich und weist keinerlei Lücken oder Sprünge auf, sodass er sich (wie jedes beliebige andere Wesen) von seinen ‹Nachbarn› nur durch eine stärkere Ausprägung bestimmter Eigenschaften unterscheidet. In seinen biologischen Schriften kommt Aristoteles auf den Menschen daher dort zu sprechen, wo er die Körperstruktur der blutführenden und lebendgebärenden Tiere behandelt. «Anschließend an den Hals und den Kopf haben die Lebewesen die Vordergliedmaßen und den Rumpf. Der Mensch hat jedoch anstelle von Vorderbeinen und Vorderfüßen Arme und die sogenannten Hände, denn als einziges Lebewesen steht er aufrecht, weil seine Beschaffenheit und sein Wesen göttlich sind. Und die Leistung des in besonderem Maße göttlichen Wesens ist das Denken und Verständigsein. Diese (Leistung) wäre aber nicht leicht zu erbringen, wenn viel Körpermasse von oben aufliegt. Denn das große Gewicht macht das Denken und den allgemeinen Sinn schwer beweglich. Deshalb neigen sich zwangsläufig, wenn die Schwere und das Körperhafte größer werden, die Körper zur Erde, so daß die Natur den Vierfüßern zu ihrer Sicherheit anstelle von Armen und Händen die
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