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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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Tier). Weitere kausale Faktoren treten hinzu, deren wichtigster die Lebenswärme ist. [16] Aristoteles führt sie als eine allgemein wirkende Ursache ein, die aus formloser Materie organisierte lebende Wesen entstehen lässt; die außerdem der Erhaltung dieser Wesen zugrunde liegt und über deren organismische Eigenschaften entscheidet. Die Größe eines Lebewesens, seine Beweglichkeit, seine Reproduktionsart, seine Differenziertheit und nicht zuletzt auch seine psychischen Eigenschaften hängen von dem ihm innewohnenden Quantum an Lebenswärme ab. Pflanzen verfügen über nur wenig Lebenswärme; bei Insekten oder Fischen ist das Quantum bereits größer und es wächst bei den verschiedenen Arten höherer Tiere kontinuierlich an. An der Spitze steht natürlich der Mensch als das wärmste aller Lebewesen. Die in den Organismen enthaltenen Quanta an Lebenswärme determinieren mithin ihre Eigenschaften und damit eo ipso auch ihren Platz in der scala naturae. Allgemein gilt: Je wärmer (und folglich: je feuchter und weniger erdhaft) ein Lebewesen ist, desto vollkommener ist es und desto höher ist sein Platz in der Stufenleiter.
    Auch für den aufrechten Gang erweist sich die Lebenswärme als bedeutsam. Sie ist nämlich kausal dafür verantwortlich, dass der Mensch überhaupt aufgerichtet ist. In der Aristotelischen Physik hat die Wärme ihren natürlichen Ort oben, sodass warme Körper aufwärts streben. Die Lebenswärme ist zwar nicht identisch mit der allgemeinen physikalischen Wärme, steht ihr aber nahe genug, um dieselbe natürliche Aufwärtsrichtung zu haben und die Lebewesen vom Erdboden weg in die Höhe zu ziehen. Je mehr Lebenswärme ein Wesen besitzt, desto aufgerichteter sind daher seine Gestalt und seine Fortbewegungsart. Da der Mensch das größte Quantum an Lebenswärme hat, geht er «allein von allen Lebewesen aufrecht; seine natürliche Wärme bewirkt nämlich, wenn sie stark ist, das Wachstum von der Mitte her aufgrund ihrer eigenen Bewegung (nach oben)». ( Part. anim.  II,7 653a30–33) Umgekehrt bewirkt ihre geringe Lebenswärme, dass andere Organismen eben nicht aufgerichtet, sondern vierfüßig sind oder gar am Boden kriechen. Geht die Lebenswärme so weit zurück, wie es bei den Pflanzen der Fall ist, so kehrt sich ihre Körperhaltung geradezu um: Sie stehen auf dem ‹Kopf›. Dasselbe gilt übrigens auch für den Menschen. Wenn seine Lebenswärme abnimmt, büßt er seine aufrechte Haltung ein und sinkt nieder, zum Beispiel wenn er schläft. –Das dem Menschen artspezifisch zukommende große Quantum an Lebenswärme hat über die Aufrichtung des Körpers in die Vertikale hinaus eine Reihe weiterer, indirekter Wirkungen. Durch die Aufrichtung erhöht sich die Distanz zum Erdmittelpunkt; die Erdhaftigkeit des Menschen nimmt ab, sein Blut wird reiner und die Leistungs fähigkeit der Sinnesorgane und damit auch die Intelligenz wachsen. (Mit ‹Intelligenz› ist hier nicht die höchste Vernunft, der nous, gemeint, sondern die praktische Intelligenz, die der Mensch mit den Tieren gemeinsam hat, auch wenn er sie darin graduell übertrifft.) Kurz: Die Theorie der Lebenswärme liefert erstens eine kausale Erklärung dafür, dass Menschen eine aufrechte Gestalt haben; und stellt zweitens einen kausalen Zusammenhang zwischen dieser Gestalt und der überlegenen Intelligenz her.
    Obwohl kausale Erklärungen in der aristotelischen Biologie einen breiten Raum einnehmen, bleiben sie doch stets in ein teleologisch definiertes Gesamtbild des Kosmos eingebettet. Kausale Faktoren wirken um eines gegebenen Endzweckes willen und haben daher eine dienende Funktion: Sie konstituieren die ‹proximaten› Ursachen für Phänomene, deren ‹ultimate› Ursachen in Ziel- und Zweckbestimmungen bestehen. [17] In physiologischen Kontexten geht die Erklärungsrichtung daher immer von der Funktion zum Organ: Die Funktion ist primär und schafft sich ihr Organ. Dadurch unterscheiden sich kosmologisch orientierte Theoretiker von Materialisten wie Lukrez, die die entgegengesetzte Erklärungsrichtung vorziehen: «… für sämtliche Glieder, so mein’ ich,/Gilt’s, daß sie früher vorhanden, bevor ihr Gebrauch ward gefunden.» ( Rer. nat.  IV,840–41) In einem vernünftig und sinnvoll geordneten Kosmos haben alle Ereignisse und Sachverhalte ihren Grund und dieser Grund liegt ihrer empirischen Realisierung notwendig voraus. Aristoteles hat zwar keine Verwendung für einen rational handelnden Demiurgen; doch die

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