Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
unpersönlichen Wirkmächte, die an seine Stelle treten, gehen genauso planvoll und zweckgerichtet zu Werke, wie der platonische Demiurg es tat. Er insistiert darauf, dass die Natur «wie ein verständiger Mensch» ( Part anim. IV,10 687a9) handelt und nichts umsonst tut. Auch wenn hier kein personaler Weltbildner postuliert wird, bleibt die Deutung der natürlichen Prozesse durchgängig anthropomorph und technomorph. Wenn es jetzt die Natur selbst ist, die vernünftig und zweckvoll handelt, so tut sie es zwar nicht als ein Demiurg, aber doch wie ein Demiurg. – Das gilt auch für den aufrechten Gang. In der aristotelischen Deutung dieses Merkmals spielen die kausalen Faktoren nur eine untergeordnete Rolle; worauf es ankommt, ist seine Funktion und diese ergibt sich aus dem kosmischen Gesamtzusammenhang, in dem der Mensch steht und in dem er eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen hat.
Nun haben wir eingangs bereits erfahren, dass der Mensch aufrecht steht, «weil seine Beschaffenheit und sein Wesen göttlich sind. Und die Leistung des in besonderem Maße göttlichen Wesens ist das Denken und Verständigsein.» Das ist nicht weit von den Ausführungen im Timaios, nach denen der oberste Seelenteil des Menschen von der göttlichen Weltseele herstammt und nach denen der Mensch daher die Aufgabe hat, diesem Seelenteil die Führung in allen Belangen seines Lebens zu überlassen. Eine ganz ähnliche Beziehung zwischen dem Göttlichen und dem Geistigen postuliert auch Aristoteles. Das Denken und Verständigsein ist für ihn nicht nur eine artspezifische Möglichkeit des Menschen, sondern damit zugleich eine artspezifische Aufgabe. Nur er allein kann diese Aufgabe wahrnehmen, denn andere Arten von vernunftbegabten Wesen, von den Göttern abgesehen, gibt es nicht. In ethischer Hinsicht liegt hierin ein Element der Verpflichtung. Es ist dem Menschen nicht freigestellt, vernünftig zu sein; es ist ihm aufgegeben. Zugleich liegt darin aber auch ein Versprechen, denn mit dieser Aufgabe ist die für den Menschen objektiv beste Lebensweise festgelegt. Wer ihr nachkommt, wird glücklich. Wie für Platon hat die Ethik auch für Aristoteles eine metaphysische Basis; ethisches Denken legt die praktischen Implikationen kosmologischer Einsichten offen. Die Gedankenführung der Nikomachischen Ethik läuft auf die These zu, dass der Mensch die höchste Form des Glücks in der Konzentration auf das Denken und Verständigsein findet, in der theoretischen bzw. philosophischen Lebensform. Denn im Vollzug des Denkens bringen wir das höchste und göttliche Element in uns zur Entfaltung: die Vernunft. In diesem Vollzug nähern wir uns daher dem Göttlichen an, soweit dies unter den Bedingungen des empirischen Lebens möglich ist. «Wenn also die intuitive Vernunft im Vergleich mit dem Menschen göttlich ist, dann ist auch das Leben in der Betätigung dieser Vernunft göttlich im Vergleich mit dem menschlichen Leben.» (NE X,7, 1177b30–31; cf. auch EE VII,3 1249b6–23) Insoweit der Mensch den besten und göttlichen Teil in sich wirksam werden lässt, führt er das beste und göttlichste Leben, das er führen kann.
«Göttlich» ist das Denken aber nicht nur, weil es die Betätigung des göttlichen Elements in uns ist, sondern auch insofern es sich auf göttliche Gegenstände richtet. Dazu gehören für Aristoteles die Himmelskörper, die ja lebende, beseelte und göttliche Wesen sind. Vor allem in ihrer denkenden Betrachtung liegen die Bestimmung des Menschen und sein vollendetes Glück. (NE VI,7 1141b2–3, 1177a20, 1177b32–35; Met. I,2 983a7 und XII,8 1073b4–5) Einen engen Zusammenhang zwischen dem Studium des Himmels und seiner Bewegungen, der Ordnung der Seele und dem Glück hatte schon Platon hergestellt. Den Menschen, so hatte er gesagt, ist die Möglichkeit und der Trieb zur Untersuchung des Alls gegeben und daraus ist uns «die eigentümliche Betrachtungsweise der Philosophie erwachsen, des größten Gutes, das dem sterblichen Geschlecht von den Göttern verliehen ward und überhaupt verliehen werden kann». ( Tim. 47a-b) Aristoteles schließt sich dieser Auffassung an. In der Eudemischen Ethik (I,5 1216a11–17) referiert er zustimmend die Antwort, die Anaxagoras auf die Frage gegeben hatte, warum jemand es vorziehen könnte, geboren zu werden, anstatt nicht geboren zu werden. Die Antwort lautete: «Um das Himmelsgebäude zu betrachten und die Ordnung im Weltall.» – Vor uns entsteht damit das Bild eines Menschen, der mit
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