Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
und Menschen charakterisiert wird (II,154). Diese soziale bzw. politische Analogisierung legt es nahe, von der Gesetzmäßigkeit und Stabilität des Kosmos auf die von Haus und Stadt zu schließen: Nur ein Haus und eine Stadt, die sich an den harmonischen Bewegungen der Gestirne orientieren, haben Anspruch auf die eng verwandten Titel der Ordnung und Gerechtigkeit und Aussicht auf Stabilität. Vollends offenbar wird dieser politische Subtext in Ciceros Schrift De legibus. In dieser Schrift geht es um eine philosophische Analyse der Natur des Rechts und um ihre Ableitung aus der Natur des Menschen; damit sollen sichere, unumstößliche Fundamente eines geordneten sozialen Zusammenlebens identifiziert werden. Cicero lässt nun zu diesem Zweck sein Sprachrohr Marcus in einem knapp formulierten, aber inhaltlich weit ausholenden Diskussionsbeitrag alle jene Topoi rekapitulieren, die wir in diesem Kapitel kennengelernt haben. Die Rede ist von der Erschaffung des Menschen durch einen fürsorglichen Gott; von der Ausstattung des Menschen mit Vernunft und Denkfähigkeit; von der eben darin begründeten Verwandtschaft zwischen dem Gott und dem Menschen; von der ebenfalls darin gelegenen zentralen Stellung des Menschen in der Natur; und schließlich auch von der seinem Geist angepassten körperlichen Gestalt. Denn während die Natur «die übrigen Lebewesen vornüber geneigt hat, damit sie ihre Nahrung suchen, hat sie den Menschen allein aufgerichtet und ihn angespornt, zum Himmel als dem Ort seiner Verwandtschaft und seiner einstigen Heimstatt aufzublicken …» ( Leg. I,9,26) Die Vernunft und die damit zusammenhängende aufrechte Haltung sind für Cicero unter die Grundlagen der politischen Ordnung zu rechnen, jedenfalls soweit es sich um eine gerechte Ordnung handelt. Denn die Grundsätze der Gerechtigkeit finden sich (auch) am Himmel und ein Staatswesen wird umso besser geordnet und umso stabiler sein, je peinlicher die himmlischen Umläufe beachtet werden. Während die Astrologie in der griechischen Welt überwiegend privat genutzt wurde, spielte sie in der politischen Ordnung des römischen Reiches eine zentrale Rolle. Vor allen wichtigen politischen Entscheidungen und Handlungen wurde von beamteten Experten die Zustimmung der Götter zu ermitteln versucht; dabei galten auch Himmelserscheinungen als aussagekräftig. Ciceros Überlegungen können daher als eine philosophische Grundlegung der römischen Staatsreligion angesehen werden.
Der aufrechte Gang fungiert als ein verbindliches kosmisches Zeichen, das dem Gemeinwesen nicht anders als dem Individuum seine angemessene Strebensrichtung vorgibt. Er galt dem antiken Denken als ein anatomisch und physiologisch manifestierter Hinweis auf die Bestimmung oder Aufgabe, die dem vernünftigen Lebewesen in einer sinnvoll geordneten Welt zukommt. – Auch als sich die antike Welt ihrem Ende zuzuneigen begann und in ein christliches Zeitalter überzugehen sich anschickte, behielt dieses Zeichen seine Bedeutung. Wir begegnen ihm an einer Literaturstelle, die einen dramatischen Umschlagspunkt in der Biographie ihres Autors und zugleich einen philosophiehistorischen Übergang markiert. Als Boethius zu Beginn des 6. Jahrhunderts im Gefängnis auf seine Hinrichtung wartet, schreibt er ein Buch, das bis in die frühe Neuzeit hinein zu den meistgelesenen Werken überhaupt gehören und eine ungeheure Wirkung für die Entwicklung der christlichen Philosophie entfalten sollte: Trost der Philosophie. Boethius war Christ; in seiner unter der Drohung des Schwertes stehenden Lage ließ er sich aber nicht von Gott oder Jesus trösten, sondern von einer personifizierten «Philosophie», die ihn in seinem Gefängnis besucht und ihn durch Argumente und Mahnungen von seiner Verzweiflung zu heilen sucht. Statt der Trostmittel der christlichen Religion mobilisiert die «Philosophie» die bekannten und bewährten Einsichten des antiken Denkens: die vernünftige Lenkung der Welt durch Gott; die Nichtigkeit allen Übels, wenn man sie richtig bedenkt; die Unabhängigkeit des Glücks von den äußeren Gütern. Und natürlich versäumt es die «Philosophie» auch nicht, in dem letzten ihrer Lieder (V,5. C.) noch einmal daran zu erinnern, dass dem vernünftigen Lebewesen die richtige Lebensweise in seiner Körperhaltung angezeigt ist:
Mannigfaltig über die Erde hin wandern Tiergeschlechter,
Diese schleppen gestreckten Leibes sich hin in niederem Staube …
Einzig können der Menschen Geschlechter
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