Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
das Naturgeschehen; dass er indirekt dennoch an der Vorstellung eines vernunftgeleiteten Handelns festhält, zeigt seine durchgängige Analogisierung von natürlichen Prozessen mit handwerklicher Tätigkeit. Ciceros Stoiker macht hier keine Ausnahme. Nach dem Schulgründer Zenon, so führt er aus, sei die Natur des Weltalls «nicht nur schöpferisch tätig, sondern eine vollendete Künstlerin, die sich um den Nutzen und Vorteil aller Geschöpfe kümmere und sorge. Und wie die übrigen Organismen, die alle aus ihrem arteigenen Samen erzeugt werden, wachsen und Bestand haben, so besitzt die Natur des Weltalls lauter vom Willen gesteuerte Bewegungen, Absichten und Bestrebungen, die bei den Griechen hormai heißen, und sie verrichtet die diesen entsprechenden Handlungen so wie wir selbst, die wir uns aufgrund unserer geistigen Kräfte und Empfindungen bewegen.» (II,58) Nachdem zuvor behauptet worden war, dass die Götter das Weltall ursprünglich geordnet haben und es weiterhin verwalten, tritt plötzlich der Kosmos selbst als handelndes Subjekt auf. Es wird im Text nicht klar, wie diese beiden Behauptungen sich miteinander vertragen; aber das ist für unser Thema nur am Rande bedeutsam. In jedem Fall hielten auch die Stoiker die Ordnung der Welt nur durch den Rückgriff auf das intentionale Handeln einer vernünftigen und guten personalen Instanz für erklärbar.
Ein über Platon und Aristoteles hinausreichender Gedanke kommt allerdings ins Spiel, wenn es um die Stellung des Menschen in dieser vernünftigen, guten und schönen Welt geht. Für die ersteren war der Mensch ein Teil der Welt; ein besonderer und herausgehobener Teil der Welt zwar, von einer Zentralstellung in ihr war aber nicht die Rede. Genau dies vertreten aber die Stoiker: Die Welt ist nicht nur bestmöglich eingerichtet, sondern bestmöglich für den Menschen. Der dem kosmologischen Denken von vornherein innewohnende Anthropozentrismus wird damit auf die Spitze getrieben. Für Balbus besteht kein Zweifel daran «daß alles, was es auf dieser Welt gibt und dessen sich die Menschen bedienen, um der Menschen willen geschaffen und bereitgestellt ist». (II,154) Die Tiere beispielsweise existieren nur, um von den Menschen verspeist oder als Arbeitssklaven ausgebeutet zu werden. – Das ist aber noch nicht alles. Der stoische Anthropozentrismus behauptet nämlich nicht nur, dass alles, was es «auf dieser Welt» gibt, um der Menschen willen geschaffen wurde, sondern darüber hinaus auch die Welt selbst. Erläutert wird diese kühne These oft und gern mit der Behauptung, dass der Kosmos, insbesondere aber die Kreisbahnen der Gestirne am Himmel «ein herrliches Schauspiel für die Menschen» und letztlich «nur um der Menschen willen geschaffen» worden seien. (II,155) Auch dies ist eine deutliche Zuspitzung. Nach Platon oder Aristoteles war der Mensch geschaffen, um den Kosmos zu betrachten; nach stoischer Auffassung ist der Kosmos geschaffen, um vom Menschen betrachtet zu werden. Die himmlischen Erscheinungen existieren nicht aus eigenem Recht, sondern sind eine Inszenierung für ihn.
Zu beachten ist dabei, dass der Begriff «Schauspiel» (spectaculum) in der römischen und griechischen Antike keine Unterhaltungsveranstaltung bezeichnet, sondern eine kultische Feier: Theateraufführungen waren ursprünglich Bestandteil religiöser Feste. Und da diese Feste stets auch den Zusammenhalt des Gemeinwesens fördern sollten, hatten sie immer auch eine wichtige politische Funktion. Werden die Vorgänge am Himmel als «Schauspiel» charakterisiert, so wird ihnen damit eine religiöse Bedeutung zugeschrieben. Dies liegt ja schon deshalb nahe, weil es sich bei den Himmelskörpern auch nach stoischer Auffassung um Götter handelte. Die Betrachtung [19] des Himmels kann deshalb ohne weiteres als eine Art von Gottesdienst angesehen werden; sie hat wie Balbus eigens betont, eine Erbauungsfunktion. Bei der Betrachtung der Himmelserscheinungen gelangt der Geist «zur Erkenntnis der Götter, die zur Frömmigkeit führt; mit ihr verbunden sind die Gerechtigkeit und die übrigen Tugenden, aus denen ein glückliches Leben hervorgeht, das dem der Götter vollkommen gleicht und nur hinsichtlich der Unsterblichkeit, die allerdings für ein gutes Leben ganz belanglos ist, den Himmlischen nachsteht». (II,153) Ähnlich wie bei Platon hat der Blick nach oben eine religiös-ethische Doppelfunktion: Er ist zum einen eine Art Gottesdienst und zum anderen der Königsweg zum glücklichen
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