Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
höher den Scheitel heben,
Recken leichte Glieder und blicken so auf die Erde nieder.
Hat nicht irdischer Sinn dich verwirrt, dann mahnt dich diese Gestaltung:
Der erhobnen Hauptes zum Himmel du mit der Stirne aufschaust,
Trag die Seele auf zum Erhabnen, daß nicht niedere Schwere
Tiefer als den aufrechten Körper dir deine Seele ziehe.
Zweiter Teil
Verkrümmte Ebenbilder
D ie kosmologische Deutung der Welt und des Menschen war in der Antike nicht konkurrenzlos. Sie war eine Deutung unter anderen. Wenn ihre Rivalinnen bisher nur en passant erwähnt wurden, so hat dies seinen Grund darin, dass nennenswerte Äußerungen zum aufrechten Gang von Vertretern nicht-teleologischer, materialistischer Positionen nicht bekannt sind. Möglicherweise ist das der lückenhaften Überlieferung geschuldet, denn von dem umfangreichen Werk Demokrits oder Epikurs ist nur wenig erhalten geblieben; möglicherweise aber auch einem theoretischen Desinteresse. In einem ausschließlich von Kausalbeziehungen beherrschten Universum kann der aufrechte Gang zwar als eine anatomische Besonderheit registriert werden, durch die sich der Mensch vom Tier unterscheidet; eine ‹Bedeutung› kommt ihm aber nicht zu. Denn worauf sollte er in einer Welt verweisen, in der es weder eine himmlische Verwandtschaft des Merkmalseigners gibt, noch eine Bestimmung, die ihm aus der Weltordnung zuwächst? Es ist daher nicht überraschend, dass wir in der ausführlichsten materialistischen Darstellung der Welt und des Menschen, die uns in der antiken Literatur bekannt ist, in Lukrez’ De rerum natura, nichts über die menschliche Körperhaltung erfahren. Wenn ihr keine weitergehende ‹Bedeutung› zukommt, bedarf sie auch keiner philosophischen Deutung. – Die Bevorzugung der kosmologischen Theorien ergibt sich weiterhin daraus, dass auch die drei Buchreligionen des Mittelmeerraumes und Vorderen Orients durch sie beeinflusst sind. Dies gilt insbesondere für die christliche Theologie, die sich in der Spätantike schrittweise ausbildete und in den folgenden Jahrhunderten die intellektuelle und kulturelle Deutungshoheit in Europa übernahm. Alternative Theorien, die während der Antike stets lebendig und einflussreich geblieben waren, wurden nun mit allen Mitteln marginalisiert, sodass der kosmologische Denktypus, seine anthropologischen Implikationen eingeschlossen, über mehr als ein Jahrtausend hinweg die einzig verfügbare Denkoption blieb. Erst in seiner christlichen Ausdeutung hat er eine hegemoniale Stellung errungen.
Der Schöpfungsmythos des Buches Genesis unterscheidet sich nicht grundlegend von anderen bekannten nichtphilosophischen Kosmogonien der Frühzeit und weist auch Parallelen mit dem platonischen Timaios auf. Obwohl religiös motiviert und frei von philosophischen Ansprüchen, distanziert er sich von keiner der drei Kernthesen des kosmologischen Weltmodells. Es ist nur von einer Welt die Rede und deren Entstehung wird als eine gigantische Ordnungsleistung präsentiert. Der Schöpfer findet das berühmte Tohuwabohu vor, aus dem er, ähnlich wie der platonische Demiurg, eine strukturierte Welt formt. Dies geschieht in mehreren Schritten, durch die Scheidung des Nicht-Zusammengehörigen, also von Licht und Finsternis, von Land und Wasser, und durch die Erzeugung einer Vielfalt von lebenden Wesen, den Menschen eingeschlossen. Im Anschluss an jeden Schritt versichert Gott sich der Gutheit seines Werkes und äußert mehrfach seine Zufriedenheit darüber: «Und Gott sah, daß es gut war.» In dieser ‹Billigungsformel› besteht eine der zentralen Aussagen der Genesis, die zugleich natürlich auch den entscheidenden Anknüpfungspunkt für die Übernahme des kosmologischen Denkens durch das Judentum und das Christentum bildete. Auch in dem anthropologisch wichtigen dritten Punkt schert der biblische Schöpfungsbericht nicht aus dem üblichen kosmologischen Muster aus. Er schildert die Erschaffung des Menschen als Teil der Erschaffung des Kosmos und stellt ihn nicht nur in den kosmischen Zusammenhang, sondern an dessen Spitze.
Die intellektuellen Repräsentanten des hellenistischen Judentums und die frühen christlichen Theoretiker knüpften hier an und suchten das biblische Weltbild mit den zeitgenössisch verfügbaren philosophischen Theorien zu amalgamieren. Dieser Rückgriff auf die Philosophie war alles andere als selbstverständlich und in vielem heikel, denn die Philosophie war ja das intellektuelle Produkt einer heidnischen Welt,
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