Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Leben. Eine andere Nuance kommt aber dadurch ins Spiel, dass Platon für eine aktive Erforschung des Himmels eintritt, während die Stoa dem Menschen eine eher passive Zuschauerrolle zuweist.
Unabhängig von dieser Differenz ergibt sich für die Stoiker aus der Zuschauerrolle des Menschen seine aufrechte Körperhaltung, so wie sie sich für Platon aus der astronomischen Bestimmung des Menschen ergeben hatte. Ganz allgemein erwarten wir natürlich, dass in einem für den Menschen optimal eingerichteten Kosmos auch der menschliche Körper sorgfältig auf dessen Interessen zugeschnitten ist. Balbus ergeht sich wortreich über die entsprechende göttliche Fürsorge, die beispielsweise auch eine sorgfältige Planung der menschlichen Darmfunktionen einschließt. Darüber hinaus hat eine Spezialprovidenz aber auch dafür gesorgt, dass die Menschen das für sie inszenierte kosmische Schauspiel betrachten können. Die Götter «haben zunächst einmal die Menschen vom Erdboden aufgerichtet und sie aufrecht und gerade stehen lassen, damit sie beim Blick auf den Himmel zur Erkenntnis der Götter gelangen könnten. Es sind nämlich die Menschen nicht nur als Insassen und Bewohner der Erde anzusehen, sondern sie sind von der Erde aus die Betrachter überirdischer und himmlischer Erscheinungen, eines Schauspiels das für keine andere Gattung von Lebewesen von Bedeutung ist.» (II,140) Die Vorsehung hat also erstens die Welt als ein Schauspiel für den Menschen inszeniert; und zweitens diesen Betrachter so geschaffen, dass er dieser Inszenierung folgen kann: Mit starkem Geist und aufrechter Haltung.
Auf ähnliche Überlegungen treffen wir ein Jahrhundert später im Werk Senecas. In seiner Verteidigung der Muße und des kontemplativen Lebens führt er den menschlichen Wissensdurst darauf zurück, dass die Natur in uns einen Zuschauer für die von ihr aufgeführten Schauspiele haben wolle. Die Natur wolle «genau betrachtet, nicht nur flüchtig angesehen werden» und habe uns deshalb an einen bestimmten Platz in der Welt gestellt: «genau in ihre Mitte hat sie uns gestellt und uns den freien Blick auf alles gegeben; und sie hat den Menschen nicht nur aufgerichtet, sondern verlieh ihm auch die Gabe der Betrachtung (contemplatio), damit er die Sterne von ihrem Aufgang bis zum Untergang verfolgen könne und seinen Blick mit dem All mitwandern lassen könne, hat sie ihm ein hocherhobenes Haupt gemacht und auf einen biegsamen Hals gesetzt. Sodann, sechs Sternbilder des Tags, sechs des Nachts vorbeiführend, hat sie durchaus jeden Teil von sich entfaltet, um mit dem was sie dargeboten hatte seinem Blick, Neugierde zu erregen auch auf das übrige.» (De otio V,4) Ähnlich wie bei Platon und Aristoteles ist die aufrechte Haltung auch hier der anatomische Ausdruck der menschlichen Bestimmung zur Erforschung des Himmels und der übrigen Welt. Um ein solches kontemplatives Leben führen zu können, bedarf es neben der Wertschätzung der Erkenntnis auch der Immunität gegen alle falschen Güter, unter die auch das Geld zu rechnen ist. Die Natur hilft uns dabei. Sie hat uns rein und frei hervorgebracht und hat Gold und Silber, die uns habsüchtig machen könnten, unter unseren Füßen im Erdboden verborgen. «Sie hat unser Gesicht aufgerichtet zum Himmel, und was immer sie Großartiges und Wunderbares geschaffen hatte, wollte sie von uns in Verehrung betrachtet sehen: Sonnenaufgang und -untergang, des eilenden Weltalls Umlauf, der bei Tage die Erde, bei Nacht den Himmel sehen läßt, den langsamen Lauf der Gestirne, wenn du sie mit dem All vergleichst, sehr schnellen aber, wenn du die Weite des Weltraumes bedenkst, den sie in ununterbrochener Schnelligkeit durcheilen, Sonnen- und Mondfinsternisse, wenn sie einander gegenseitig im Wege stehen, ferner andere bewunderungswürdige Naturereignisse … Das alles läßt sie über uns sich ereignen, Gold und Silber aber und das dieser beiden wegen niemals Frieden haltende Eisen hat sie, als würden sie uns zu unserem Schaden anvertraut, in der Tiefe verborgen.» ( Epist. 94,56–57; auch 65,20 und 92,30) Wer der in seiner aufrechten Haltung angelegten Orientierung auf den Himmel folgt, ist also gegen die Verführung durch materielle Güter gefeit; er wird Gold und Silber mit Füßen treten und sich stattdessen am Göttlichen orientieren.
Ansichten dieser Art waren nicht auf eine philosophische Elite beschränkt. Wir finden sie auch in nichtphilosophischen Texten, beispielsweise in der Astronomica des
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