Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Marcus Manilius, einem offenbar auf breite Publikumswirkung angelegtem Lehrgedicht des ersten Jahrhunderts, dem ältesten (erhaltenen) Werk antiker Astrologie. In Übereinstimmung mit der von uns bislang nachverfolgten Denktradition geht auch Manilius von einem kosmologischen Bild der Welt aus. Die Welt ist ein geordnetes Ganzes, ein beseelter Organismus, der göttlich regiert wird bzw. selbst göttlicher Natur ist. Auch dass der Mensch diesem Kosmos angehört, dass er vom Himmel stammt und in ihn zurückkehren wird, dass er ein Bild des Kosmos ist, steht für Manilius außer Zweifel. Die göttliche Weltregierung erstreckt sich über alle Teile der Natur, ist besonders augenfällig an den ewig gleichen und regelmäßigen Umlaufbahnen der Sterne und schließt auch die Menschenwelt ein. Entscheidend für den astrologischen Ansatz ist natürlich die Annahme, dass zwischen den beiden letztgenannten Bereichen ein (kausaler) Zusammenhang besteht. Der Gott, die Vernunft, der Kosmos bedienen sich der Sterne, um die Geschicke der Menschen zu lenken.
Also bleibt denn
alles im Kosmos (mundus) geordnet und folgt seinem Herren.
Demnach leitet dies göttliche Walten, das alles beeinflusst,
sämtliche irdischen Wesen ab von den Himmelsgestirnen,
welche die Gottheit trotz großer Entfernung, zwingt zu erkennen,
daß sie den Völkern das Leben und ihre Bestimmung verschaffen
und den Charakter, der jedem einzelnen Wesen zu eigen. (II,80–86)
Wenn nun sowohl das Schicksal der menschlichen Individuen, als auch das der menschlichen Gemeinschaften durch die Sterne regiert wird, können diese ihre Zukunft an den himmlischen Konstellationen ablesen. Die Sterne können mithin als Zeichen der künftigen Bestimmung der Individuen oder Staaten genommen werden. Der Himmel fungiert als eine Art Schicksalsbuch, das der Mensch nicht nur lesen kann, sondern auch lesen soll. Denn im Unterschied zu allen anderen Wesen ist er zur Lektüre dieses Buches bestimmt. Dies zeigt sich, wir ahnen es schon, an seiner aufrechten Körperhaltung:
Es leben zur Erde gebeugt die andren
Wesen oder ins Wasser getaucht oder schweben im Luftraum …
Mit der Betrachtung der Welt, der Fähigkeit, Worte zu bilden,
einem empfänglichen Geist und verschiedenen Künsten erhebt sich
nur ein Geschöpf, das allen gebietet: Er ging in die Städte,
zwang das Land zu Erträgen, zähmte die Tiere und legte
Straßen aufs Meer, und als einziger hob er den Kopf in die Höhe
wie eine Burg und schickt wie ein Sieger hinauf zu den Sternen
Sternenaugen, erblickt den Olymp aus größerer Nähe,
hält nach Jupiter Ausschau und bleibt mit dem Anblick der Götter
nimmer zufrieden, er dringt in den innersten Himmel und sucht sich,
wenn er das Wesen erforscht, das ihm blutsverwandt ist, in den Sternen.
(IV,897–910)
Manilius reklamiert für die Astrologie die gleiche Glaubwürdigkeit wie sie den traditionellen und in Rom staatlich institutionalisierten Formen der Weissagung (Eingeweideschau und Vogelschau) zugebilligt wurden. Es ist der Gott-Kosmos selbst, der uns auffordert, ihn zu befragen:
Deshalb verweigert Gott selbst nicht der Erde den Anblick des Himmels
Und offenbart sein Gesicht und sein Wesen durch ständige Drehung,
drängt sich selbst sogar auf und bietet sich an, daß er richtig
kennengelernt werden kann und die Sehenden lehre, in welcher
Weise er sich bewegt, und sie zwingt, sein Gesetz zu beachten.
Unseren Geist ruft der Kosmos selbst zu den Sternen, und seine
Rechtsordnung läßt er nicht unbekannt bleiben, zumal er sie aufdeckt.
(IV,915–921)
Der Himmel ist mithin ein Schicksals- und Gesetzbuch, aus dem sich sowohl das Individuum als auch die Gemeinschaft belehren lassen soll. Wie in allen anderen Punkten ist Manilius auch in diesem keineswegs originell. Dass sich das politische Denken und Handeln an den himmlischen Umläufen zu orientieren hat, war schon eine wichtige Botschaft des Timaios gewesen. Die Harmonie der Himmelsbewegungen repräsentiert das Ideal einer gesetzmäßigen und stabilen sozialen Ordnung. Nicht zufällig wird dieser Dialog in seinen Eingangspassagen ausdrücklich als die Fortsetzung eines Gesprächs ausgegeben, das tags zuvor über den idealen Staat stattgefunden habe: als Fortsetzung der Politeia. Dem Idealstaat wird ein kosmologisches Fundament gegeben. Auch in den stoischen Einlassungen von De natura deorum klingt ein politischer Subtext immer wieder durch, wenn etwa der Kosmos als das gemeinsame Haus oder die Stadt von Göttern
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