Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
der Altdeutschen Genesis sehen wir bei Milton, dass es nicht einfach darum geht, ein anatomisches Merkmal zu erwähnen, das in der Bibel übersehen oder vergessen worden war. Es geht vielmehr darum, die herausgehobene Stellung des Menschen unter den übrigen Geschöpfen in einem äußeren Merkmal zusammenzufassen und bildhaft vor Augen zu stellen. Der Mensch ist das Ebenbild Gottes; er ist das letzte aller erschaffenen Wesen und damit Gottes ‹Meisterwerk›; er herrscht über die gesamte übrige Natur: Alles das soll in seiner Gestalt ebenso zum Ausdruck kommen wie seine weiteren Vorzüge, die in der Genesis nicht erwähnt werden, seine Vernunftbegabung, seine körperliche Ausrichtung auf den Himmel, seine Würde. Noch zwei Jahrhunderte nach Milton und in offensichtlicher Anlehnung an seine Dichtung fasste der Textdichter von Joseph Haydns Oratorium Die Schöpfung die biblische Darstellung der Erschaffung des Menschen im Bild seiner aufrechten Haltung zusammen. Nachdem der Erzengel Uriel den Text von Gen 1,27 und 2,7 in einem Rezitativ wiedergegeben hat, geht er in der anschließenden, musikalisch stark hervorgehobenen, Arie über die Bibel hinaus:
Mit Würd’ und Hoheit angetan,
Mit Schönheit, Stärck’ und Muth begabt,
Gen Himmel aufgerichtet, steht der Mensch,
Ein Mann, und König der Natur. (II,24)
Gegenüber poetischen Zeugnissen haben es Werke der bildenden Kunst mit der Schöpfung schwerer, da sie zwar das Resultat von Vorgängen darstellen können, nicht aber diese selbst. Und wenn das Ergebnis der Schöpfung der aufrechte Mensch ist, entsteht sofort eine zweite Schwierigkeit. Denn es ist nicht ohne weiteres klar, ob ein aufrecht stehender Mensch als ein aufrecht Stehender dargestellt werden soll. Dennoch finden sich Werke, die genau dies versuchen. Der Renaissancemaler Mariotto Albertinelli zeigt, wie Gott mit seiner rechten Hand Adam segnet und ihn zugleich mit seiner linken Hand aufrichtet. Da im Hintergrund vierfüßige Tiere zu sehen sind, liegt die Annahme nahe, dass hier die Sonderstellung des Menschen gegenüber den Tieren dargestellt und an seiner Aufrichtung durch Gott symbolisiert werden soll. [5] – Bekannter als Albertinellis Bild ist die Darstellung der Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle. Michelangelos Fresko gehört zu den berühmtesten Bildern überhaupt und entsprechend viele Deutungen hat es erfahren. Nach der wohl am weitesten verbreiteten Interpretation erweckt der ausgestreckte Finger Gottes den aus Lehm geformten Körper Adams zum Leben und beseelt ihn. Von Gott fließt demnach eine Art Lebenskraft oder Seelenfunke auf Adam über, ein Vorgang, den wir uns in Analogie zu einem elektrischen Strom vorzustellen haben.
Abb. 2: Die Aufrichtung Adams. Michelangelo, Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle (1508–12)
Obwohl sie einen Konsens der kunsthistorischen Forschung markiert, hält diese Deutung einer näheren Prüfung nicht stand. Ihre Schwierigkeiten beginnen damit, dass sich die Finger Gottes und Adams gar nicht berühren und der leere Raum zwischen beiden dem postulierten Influxus hinderlich wäre. Weiterhin beruht sie auf einem Anachronismus, insofern sie den Schöpfergott als einen Ahnherrn Frankensteins erscheinen lässt, der das von ihm geschaffene Monster im 18. Jahrhundert ja mit Hilfe des physikalischen Phänomens der Elektrizität beleben wird. Vor allem aber lässt sie den Denkrahmen unberücksichtigt, in dem sich nicht nur Michelangelo, sondern auch seine Auftraggeber bewegten. Es ist ikonographisch, historisch und theologisch viel plausibler, die Handbewegung Gottes als eine Befehls- und Zeigegeste aufzufassen: als die Aufforderung an den noch auf dem Boden liegenden Adam, sich aufzurichten und die dem Menschen charakteristische aufrechte Haltung anzunehmen. Adam reagiert auf diesen Befehl mit einer analogen Geste und beugt folgsam das linke Bein, um sich aufzurichten; der Oberkörper hat sich bereits von dem Boden gelöst, aus dem er geformt wurde. Diesem imperativen Verhältnis beider Figuren entspricht auch die bildliche Gestaltung der beiden Hände. Während die göttliche Hand zwar befehlsgewohnt-lässig, aber gerade ist, streckt sich ihr Adams Hand eher schlaff und rezeptiv entgegen. Theologisch überzeugender ist diese Deutung nicht zuletzt deshalb, weil Gott zumindest im ersten Kapitel der Genesis nicht als ein Demiurg auftritt, der bei seiner Schöpfung selbst Hand anlegt, sondern als ein Befehlender, der allein Kraft seines Wortes
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