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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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der Fall! Die zweite Schlussfolgerung hat ‹prognostischen› Charakter und ist die für uns wichtigere. Wer die Autorität der Bibel akzeptiert und sein Weltbild auf ihrer Grundlage errichtet, hat von vornherein keinen Grund, der aufrechten Körperhaltung einen hervorragenden Platz darin einzuräumen. Pointiert gesagt: Im Hinblick auf die auf der Bibel fußenden Weltanschauungen des Judentums und des Christentums waren die Auspizien für den aufrechten Gang ausgesprochen schlecht.
    Doch Auspizien können trügen. Die Exegeten haben das Schweigen der Bibel korrigiert und dem aufrechten Gang auf eigene Faust jene Bedeutung zugewiesen, die ihm in der Heiligen Schrift versagt geblieben ist. So findet sich schon in der jüdischen Exegese die These, dass Gott den Menschen mit vier Attributen der höheren und vier Attributen der niederen Lebewesen erschuf. Der aufrechte Gang wird als erstes derjenigen Attribute genannt, die der Mensch mit den Engeln teilt, erst danach kommen Sprache und Verstand. (Midrash Rabbah VIII,11; XX,5) Augustinus erwähnt in seiner Genesis -Deutung den aufrechten Gang zwar nicht explizit, lässt aber keinen Zweifel daran, dass der Mensch in der uns geläufigen Gestalt von Gott geschaffen wurde. ( Gen. ad litt. 6,2,3; 6,6,10) Dem liegt wohl die Annahme zugrunde, dass der Schöpfungsbericht den aufrechten Gang nicht aus gewichtigen theologischen Gründen übergeht, sondern als selbstverständlich voraussetzt. Diese Annahme ist wahrscheinlich zutreffend. Wenn die Bibel den aufrechten Gang unerwähnt lässt, so soll damit nicht behauptet oder nahegelegt werden, die Menschen seien von Gott nicht aufrecht geschaffen worden und hätten diese Körperhaltung erst später, aus eigenem Entschluss, angenommen. Eine solche extravagante Auffassung lag außerhalb des Horizonts der Verfasser der Bibel und sollte erst mehr als zwei Jahrtausende später [Kap. 19] ersonnen und vertreten werden. Das heißt aber: Der in der Bibel angelegte Denkrahmen lässt den aufrechten Gang unerwähnt, schließt ihn aber nicht aus; er ist prinzipiell offen für den Import des aufrechten Ganges als eines anthropologisch relevanten Merkmals. Wir werden sehen, dass diese Offenheit von den philosophischen und theologischen Exegeten gern genutzt wurde.
    Bevor wir uns aber diesen gelehrten Amplifikationen der Heiligen Schrift zuwenden, wollen wir noch einen kurzen Blick auf einige poetische Werke werfen: auf prominente Nachdichtungen der Schöpfungsgeschichte. Am Beginn soll dabei die in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts niedergeschriebene Altdeutsche Genesis stehen, die den Originaltext erheblich kürzt, andererseits aber auch neue Elemente einführt. Darunter auch den aufrechten Gang. Sie lässt Gott folgende Wort sprechen, bevor er den Menschen erschafft:
Er sol uns sîn gelîch, aller gescepfte forhtlîch.
ûfreht sol er gên, an zwein beinen stên,
das er ze himele warte, merche der sternen geverte,
merch ieglich zît an deme hîmele wît. (ed. Smits, 209–12)
    Bemerkenswert ist hier zum einen der direkte Zusammenhang mit der Gottebenbildlichkeit; und zum anderen die Zweckbestimmung des aufrechten Ganges, die an antike Vorbilder erinnert. Von einer Bestimmung des Menschen zur Schau des Himmels und der Sterne ist in der Bibel ja nicht die Rede. [4] – Auch John Milton, der vier Jahrhunderte später die wohl berühmteste Nachdichtung der biblischen Erzählung von der Erschaffung und vom Fall des Menschen schuf, hebt mehrfach dessen aufrechte Haltung hervor. Seine Darstellung der zweiten Hälfte des sechsten Schöpfungstages liest sich so:
Es fehlte noch das Meisterwerk, der Schluß
Des ganzen Werks: ein Wesen, das nicht auch
Gebückt und tierisch, sondern aufrecht geh,
Um klaren Sinnes, mit Vernunft begabt,
Die übrigen Geschöpfe zu beherrschen,
Das selbstbewußt und dadurch fähig sei,
Kühn seinen Blick zum Himmel zu erheben,
Doch dankbar auch zu sehen, daß ihm sein Glück
Von dorther komme, und mit Herz und Mund
Den höchsten Gott in Demut anzubeten,
Der es zum Haupt all seiner Werke schuf. (VII,505–15)
    Und als der Teufel sich später ins Paradies einschleicht und mit Ärger dessen Schönheit bemerkt, gewahrt er schließlich zwei Gestalten, die die anderen noch übertreffen:
«Zwei edlere Gestalten, aufrecht, schlank,
Mit angeborner Würde, schienen ihm
Gebieter hier in nackter Majestät;
Aus ihren göttergleichen Zügen strahlte
Das Abbild ihres Schöpfers: …» (IV,388–92)
    Deutlicher als in

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