Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
die aufrechte Haltung ein Ausdruck der Arroganz sind, bietet es sich an, den Verlust dieser Haltung als Strafe einzuführen. Tatsächlich wird das Gebeugtwerden allen denjenigen angedroht, die sich von dem einzigen Gott abwenden und statt seiner selbstverfertigte Götzenbilder anbeten. Wiederum ist es Jesaja, der dieses Schicksal den Anhängern abweichender Kulte prophezeit: «Doch die Menschen müssen sich ducken, jeder Mann muss sich beugen. Verzeih ihnen nicht! Verkriech dich im Felsen, verbirg dich im Staub vor dem Schrecken des Herrn, vor seiner strahlenden Pracht! Da senken sich die stolzen Augen der Menschen, die hochmütigen Männer müssen sich ducken, der Herr allein ist erhaben an jenem Tag. Denn der Tag des Herrn der Heere kommt über alles Stolze und Erhabene, für alles Hohe – es wird erniedrigt –, über alle hochragenden Zedern des Libanon …» (Jes 2,9–12) Das Gebeugtwerden ist eine Strafe, der man nur entgehen kann, indem man ihr durch die Unterwerfungsgeste des Sich-selbst-Beugens zuvorkommt. Wer nicht gebeugt werden will, muss sich selbst beugen. Aber, und das ist entscheidend, vor dem richtigen Gott bzw. vor seinen Boten. Wie vor einer sozial überlegenen Person, dem König vor allem, muss man auch vor Gott seine aufrechte Haltung aufgeben, sich beugen, knien oder sich vollständig niederwerfen. Die Bibel schildert eine Reihe von Unterwerfungsgesten dieser Art: «Nun öffnete der Herr dem Bileam die Augen, und er sah den Engel des Herrn auf dem Weg stehen, mit dem gezückten Schwert in der Hand. Da verneigte sich Bileam und warf sich auf sein Gesicht nieder.» (Num 22,31) – Merkwürdigerweise wird die aufrechte Haltung allerdings gegensätzlich bewertet. Sowohl in sozialen als auch in religiösen Kontexten gilt sie einerseits als Zeichen der Arroganz und der Hoffart, andererseits aber auch als Zeichen der Ehrerbietung. In der Kommunikation mit Höhergestellten und mit Autoritäten sind wir oft aufgefordert, uns zu erheben und eine aufrechte Haltung anzunehmen; dasselbe gilt bei zeremoniellen oder hoheitlichen Akten. Auch diese Variante finden wir in der Bibel. Als Ezechiel (1,28–2,2) von Gott zum Propheten berufen wurde, widerfuhr ihm eine grandiose Vision von vier geflügelten Wesen in menschlicher Gestalt, die einen ebenfalls menschengestaltigen Gott auf einem Thron begleiten. «Als ich diese Erscheinung sah, fiel ich nieder auf mein Gesicht. Und ich hörte, wie jemand redete. Er redete zu mir: Stell dich auf deine Füße, Menschensohn; ich will mit dir reden. Als er das zu mir sagte, kam der Geist in mich und stellte mich auf die Füße.»
Das sind aufschlussreiche Stellen. Aufschlussreich aber für die symbolische Bedeutung der aufrechten Haltung, auf die in späteren Abschnitten dieses Buches zurückzukommen sein wird. Unter anthropologischen Gesichtspunkten sind sie wenig aussagekräftig. Genauer: Als ein physisches Humanitätsmerkmal kommt die aufrechte Haltung im Alten Testament nicht oder nur marginal vor; und für das Neue Testament gilt dasselbe, wie durch die folgende Episode bestätigt wird. In ihr wird von Jesus berichtet, er habe am Sabbat in einer Synagoge gelehrt. «Dort sah er eine Frau, die seit achtzehn Jahren krank war, weil sie von einem Dämon geplagt wurde; ihr Rücken war verkrümmt und sie konnte nicht mehr aufrecht gehen. Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sagte: Frau, du bist von deinem Leiden erlöst. Und er legte ihr die Hände auf. Im gleichen Augenblick richtete sie sich auf und pries Gott.» (Luk 13,10f) Hier ist nicht vom aufrechten Gang als einem anthropologischen Merkmal die Rede, sondern von einem individuellen orthopädischen Leiden, das Jesus durch Handauflegen heilt. Die Episode spielt nicht auf ein (fehlendes) Humanitätsmerkmal an, sondern berichtet von einem Wunder, das die heilsgeschichtliche Sendung Jesu sinnfällig machen und beweisen soll. – Wirkönnen aus dieser Marginalisierung des aufrechten Ganges zwei Schlussfolgerungen ziehen. Erstens kann man über den Menschen und sein Leben denken und schreiben, man kann also eine zumindest implizite Anthropologie entwickeln, ohne seiner spezifischen Körperhaltung dabei besonderes Gewicht beizulegen. Wenn die Autoren der Bibel dem aufrechten Gang keine Beachtung schenken, dann beugt das einem Eindruck vor, den man aus den Schriften der antiken Philosophie möglicherweise gewinnen könnte: dass der aufrechte Gang ein unumgängliches Thema des anthropologischen Denkens sei. Das ist nicht
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