Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
schafft.
Abb. 3: Die Aufrichtung Evas. Michelangelo, Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle (1508–12)
Dem Handwerkergott begegnen wir erst im ‹jahwistischen› zweiten Kapitel, das die Formung Adams aus Lehm und seine Belebung durch den «Odem» und die spätere Entbindung Evas aus der Rippe Adams schildert. Auch entspricht diese Deutung dem Gewicht, das dem aufrechten Gang bereits in der antiken, später auch in der christlichen Anthropologie zugesprochen wurde. Ein wirklicher Mensch ist Adam erst, wenn er belebt, beseelt und aufgerichtet ist. Genau diesen Übergang von der ursprünglich horizontalen Lage zu einer vertikalen Position zeigt uns Michelangelos Fresko.
Poesie und Malerei bestätigen also, dass das Schweigen der Bibel nicht als ein gezieltes Verschweigen aufgefasst wurde, sondern als eine zufällige Lücke, die in Nachdichtungen und bildlichen Werken aufgefüllt werden konnte, ohne den Schriftsinn zu beeinträchtigen. Wenn die hier angeführten Werke aus relativ später Zeit stammen, so sollte dies nicht als ein Hinweis darauf gedeutet werden, dass die entsprechenden Ergänzungen der Bibel erst damals aufkamen oder üblich wurden, sondern ist wohl eher auf die Spärlichkeit der einschlägigen Überlieferung zurückzuführen. Die Quellenlange bietet keinen Raum für Zweifel an der Tatsache, dass der aufrechte Gang schon in der Spätantike Eingang in die jüdische und christliche Bibelexegese gefunden hatte.
10. Die große Verkrümmung
Gibt es denn etwas Unziemlicheres, als in einem aufrechten Leib eine krumme Seele zu haben?
Bernhard von Clairvaux
Dass der Kosmos wohlgeordnet sein soll und Gott seine Schöpfung sechs Mal für «gut» oder «sehr gut» befindet, stimmt schlecht mit den Erfahrungen überein, die diejenigen machen, die in ihm leben müssen. Die Welt ist eben nicht «gut», sondern voll von Übeln und Katastrophen. Wie ist diese Diskrepanz zwischen göttlicher Selbsteinschätzung und menschlicher Erfahrung zu erklären? Für Platon und seine Anhänger bestand kein Problem, wenn es um das Übel in der Welt geht, denn der Demiurg war als wohlwollend, aber nicht als allmächtig konzipiert. Er hatte die Welt nach dem Vorbild ewiger Ideen verfertigt, aber zwischen Urbild und Abbild klafft eine metaphysische Lücke, die auch er nicht zu schließen vermochte. Die Welt ist daher notwendigerweise unvollkommen und folglich hat der Mensch in ihr wenig zu lachen. Mit ihrer These, dass der Schöpfer der Welt mit dem höchsten und guten Gott nicht identisch sei, ging die Gnosis noch einen Schritt weiter. Ihr Demiurg war ein Stümper, wenn nicht gar ein Bösewicht; und folglich war die Welt, die er geschaffen hatte, von Grund auf schlecht. Die Materie, der menschliche Körper eingeschlossen, konnte nur eine Quelle vielfältiger Übel sein. Jedes dieser Übel, dem wir empirisch begegnen, ist daher eine glänzende Bestätigung der gnostischen Lehre. Für Juden und Christen, die an einen gütigen und allmächtigen Gott glauben, ist das ‹unde malum?› demgegenüber eine heikle Frage. Es musste (und muss) erheblicher Scharfsinn aufgewandt werden, um zu erklären, wie ein gütiger und allmächtiger Gott all die Misshelligkeiten zulassen kann, unter denen die Menschen zu leiden haben. Den Ausgangspunkt dieses Scharfsinns bildet der biblische Mythos vom Sündenfall des ersten Menschenpaares. Gott hat die Welt zwar als «gut» geschaffen, Adam und Eva haben sie aber durch ihre Sünde verdorben und die Übel der Welt heraufbeschworen. Damit war Gott entlastet und die Verantwortung ganz und gar auf die Seite des Menschen verlagert.
Man kann fragen, ob dieser Mythos den Einfluss der Menschen auf die Weltläufte nicht überschätzt und ihnen auf diese Weise zuviel der Unehre antut. In jedem Fall aber markiert er die entscheidende Bruchstelle zwischen heidnischer Antike und christlichem Mittelalter. Genauer gesagt: Nicht der biblische Mythos selbst markiert diese Bruchstelle, sondern seine schöpferische Weiterentwicklung durch Augustinus, [18] die sich zunächst auf der Synode von Orange im Jahre 529 durchgesetzt hatte und dann im weiteren Verlauf der Kirchengeschichte sowohl von protestantischer als auch von katholischer Seite bekräftigt wurde. Auf der kosmologischen Ebene wird der bereits vorhandene Einschnitt noch einmal vertieft. Ist die Welt ohnehin schon nicht mehr das Beste und Höchste, so wird sie jetzt ein weiteres Mal abgewertet. Sie ist zwar immer noch «gut», insofern sie von Gott
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