Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
Vom Netzwerk:
zweite Übergang nicht. Er kann als ein Anknüpfen an die vorwiegend metaphorische Rede vom aufrechten Gang in der Bibel verstanden werden und lag bei christlichen Theoretikern schon aus diesem Grunde in der Luft. Vor allem aber bahnte er sich im Zusammenhang mit dem Hervortreten des inneren Menschen an, denn über Unsichtbares sprechen wir vornehmlich in bildlicher Rede. Je stärker der Mensch spiritualisiert wird, desto metaphorischer muss über ihn gesprochen werden.
    Als ein Virtuose dieser metaphorischen Verwendungsweise sollte sich später Bernhard von Clairvaux erweisen. In seiner frühen Schrift Über die Gnade und den freien Willen, verfasst 1127 oder 1128, versucht er die Frage zu beantworten, welcher Raum dem Willen und Handeln noch bleibt, nachdem der Mensch gefallen ist und das Vermögen zu gutem Handeln verloren hat. Zu den Folgen des Sündenfalls gehört auch eine Einschränkung der Willensfreiheit: «Denn wenn es auch dem Willen gegeben war, stehen (stare) zu können, um nicht zu fallen (cadere), so ist ihm dennoch nicht gegeben, sich wieder zu erheben (resurgere), wenn er fällt. Denn nicht so leicht kann einer aus der Grube heraussteigen, wie in sie hineinfallen. Der Mensch ist allein durch den Willen in die Grube der Sünde gefallen. Aber er vermag nicht, sich auf Grund des Willens zu erheben, weil er, auch wenn er wollte, nicht mehr nicht sündigen kann.» (De grat.  VII,23) Von fern mag diese Passage an das Rätsel der Sphinx erinnern, in dem auch drei verschiedene Körperhaltungen des Menschen beschrieben werden; geradezu eklatant sind aber die Differenzen. Bernhard beschreibt keine Sequenz von Fortbewegungsweisen, die den Stadien des individuellen Lebenszyklus zugeordnet werden können. In der Metapherntrias ‹stare› – ‹cadere› – ‹resurgere› werden die drei Körperhaltungen oder -bewegungen vielmehr mit verschiedenen inneren Verfassungen des Menschen bzw. mit verschiedenen heilsgeschichtlichen Stadien parallelisiert: ‹Stare› entspricht dem Zustand des Menschen vor der Ursünde; ‹cadere› seinem Abfall von Gott; und ‹resurgere› der unverdienten Gnade. Es liegt auf der Hand, dass sich diese Deutung auf dem Boden des zeichentheoretischen Ansatzes bewegt, den wir oben kennengelernt haben. Die Körperhaltung ist ein Zeichen für das Innere und auf dieses Innere kommt es an.
    An späterer Stelle greift Bernhard diese bildhafte Redeweise auf, akzentuiert sie aber neu. In seinen über viele Jahre hinweg immer wieder gehaltenen Predigten zum Hohelied weist er dem Adjektiv ‹rectus› eine Schlüsselstellung zu. Die biblische Grundlage dafür bietet natürlich die vulgata-Version von Koh 7,30 «Dominus fecerit hominem rectum», der Bernhard aber sofort eine Wendung nach innen gibt. Gott habe den Menschen «dem Geiste und nicht seinem erdhaft, schmutzigen Stoff nach aufrecht erschaffen». Er habe ihn ja nach seinem Bild und seiner Ähnlichkeit erschaffen; und da Gott in der Bibel als aufrecht charakterisiert werde, müsse auch der Mensch aufrecht erschaffen sein, «das heißt ohne Unrecht, wie auch in ihm kein Unrecht ist». Im Übrigen sei das Unrecht ein Laster des Herzens, nicht des Fleisches; und daher könne die Ähnlichkeit mit Gott nur im geistigen, nicht aber im körperlichen Bereich liegen. Bernhard bezieht sich also auf die geistig-seelische Verfassung des Menschen und macht klar, was er unter ‹rectus› verstanden wissen will: «ohne Unrecht». Diese Definition hindert ihn aber nicht daran, den Begriff zugleich auch auf das Äußere des Menschen zu beziehen: «Gott hat dem Menschen jedoch auch die aufrechte Gestalt des Leibes vielleicht deshalb gegeben, damit die leibliche Geradheit (corporea rectitudo) der äußeren und wertloseren Gestalt jenen inneren Menschen, der nach Gottes Bild geschaffen ist, daran erinnere, die geistige Geradheit (spiritualis rectitudinis) zu bewahren, und damit das stattliche Aussehen des Lehms die Entstellung der Seele besonders auffällig mache. Gibt es denn etwas Unziemlicheres, als in einem aufrechten Leib eine krumme Seele (curvum animum) zu haben? Verkehrt und häßlich ist es, wenn das Gefäß aus Lehm, der aus Erde geschaffene Leib, Augen hat, die nach oben gerichtet sind, die frei zum Himmel aufblicken und sich am Anblick der Himmelslichter erfreuen, während dagegen das geistige Geschöpf, das Geschöpf des Himmels, seine Augen, das heißt die inneren Sinne und Empfindungen, abwärts zur Erde lenkt, wenn er sich wie eines von

Weitere Kostenlose Bücher