Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
geschaffen wurde; der Christ kann daher, nicht viel anders als der antike Heide, aufgerufen werden, sie zu bewundern. Zugleich aber bleiben die Ursünde und ihre Folgen nicht auf den Menschen beschränkt, sondern kontaminieren den ganzen Kosmos. [19] Die Schöpfung ist eine gefallene Schöpfung; ein ungebrochen positives Verhältnis zu ihr kann und darf es nicht mehr geben. Dieselbe Verderbnis finden wir auf der anthropologischen Ebene. Die Ur- und Erbsünde hat nicht nur Unheil über die Menschen gebracht, sondern ihre Natur von Grund auf verkehrt und verdorben. [20] Krankheit und Tod, Arbeit und Konkupiszenz sind die Folgen, ebenso eine Disposition zu fortgesetztem Sündigen. Der Sündenfall legt somit einen scharfen Schnitt in die Geschichte der Menschheit: Der Mensch ist durch ihn ein fundamental anderer geworden als er vorher war. Neben der Ebenbildlichkeitsthese bildet die Lehre von der Erbsünde den zweiten Grundpfeiler jeder christlichen Anthropologie; der Dualismus von Seele und Körper wird von der Diskrepanz zwischen Gottebenbildlichkeit und konstitutioneller Sündenverfallenheit überlagert. Dies hat einschneidende Konsequenzen auf der ethischen Ebene. Zum guten Willen und guten Handeln kann es der Mensch jetzt nicht mehr von sich aus, sondern nur noch aufgrund göttlicher Gnade bringen. Die Glückseligkeit ist nicht mehr in diesem, sondern nur noch im jenseitigen Leben realisierbar; dies setzt die unbeeinflussbare Gnade Gottes voraus. Der moralischen und ethischen Autonomie ist damit der Boden entzogen.
Was bedeutet das alles für den aufrechten Gang? Kann er unberührt geblieben sein, wenn der Sündenfall ein so tiefer Bruch in der Geschichte des Kosmos war und wenn die menschliche Natur durch ihn von Grund auf verdorben wurde? Die Bibel beantwortet diese Fragen nicht. So wenig sie bei der Erschaffung des Menschen von dessen aufrechter Körperhaltung berichtet, so wenig erwähnt sie diesbezügliche Folgen des Sündenfalls. Ein Bericht über den Verlust des aufrechten Ganges wäre auch schwer zu verteidigen, sehen wir doch täglich und überall, dass die Menschen auch nach dem Sündenfall aufrecht gehen. Sie können diese Fortbewegungsart also durch ihn nicht verloren haben. Andererseits wäre es seltsam, wenn gerade dieses Humanitätsmerkmal unversehrt geblieben wäre, wo doch die ganze menschliche Natur verdorben wurde. – Wo uns die Bibel im Stich lässt, ist auf ihre Interpreten Verlass. In einer Predigt über den Ursprung des Bösen gibt uns Basilius von Caesarea einen Hinweis darauf, in welcher Richtung wir nach Beeinträchtigungen zu suchen haben. «Adam stand einst hoch erhaben da, nicht räumlich, sondern kraft seines Willens, da er, beseelt, zum Himmel aufschaute, hoch erfreut über die Dinge, die er sah, voll Liebe gegen seinen Wohltäter, der ihm den Genuß des ewigen Lebens verliehen, ihn in die Wonne des Paradieses versetzt, ihm wie den Engeln Herrschaft gegeben, ihn zum Tischgenossen der Erzengel und zum Hörer göttlicher Stimme gemacht hat.» (Pred. XV,7) Diese kurze Passage kleidet in ein suggestives Bild, was der übrige Text der Predigt detaillierter beschreibt: wie groß der Verlust war, den die Menschheit durch den Sündenfall erlitt. Denn obgleich es nicht ausdrücklich gesagt ist, ist doch klar, dass die Menschen heute nicht mehr «hoch erhaben» dastehen. Der Sündenfall war offenbar ein Fall auch in dem Sinne, dass die Menschen ihre vormalige Erhabenheit verloren haben. Doch wie ist diese Feststellung zu verstehen? – Basilius vollzieht in seinem Text einen doppelten Übergang. Er hebt zunächst hervor, dass der Ausdruck «hoch erhaben» nicht im räumlichen Sinne zu verstehen sei. Behauptet wird also nicht, der erste Mensch sei körperlich aufgerichtet gewesen, während wir, die ihm nachfolgen, körperlich niedergebeugt seien, auf vier Füßen gingen oder gar auf dem Bauche kröchen. Gemeint ist ausdrücklich eine geistige Erhabenheit, eine seelische Aufgerichtetheit zum Himmel und zu Gott, die Adam besaß, die wir aber durch seine Sünde verloren haben. Damit vollzieht Basilius im 4. Jahrhundert einen Übergang von außen nach innen, der ganz auf der Linie des platonisch-paulinischen inneren Menschen liegt. Zweitens wird damit ein Übergang von der wörtlichen Verwendung des Ausdrucks ‹aufrechter Gang› zu einer metaphorischen Verwendung vollzogen. Denn natürlich kann von einer ‹inneren Aufgerichtetheit› nur bildhaft die Rede sein. Überraschend kommt dieser
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