Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Menschen in allen seinen Lebensäußerungen. Dieses Naturalisierungsprogramm trat in zwei Varianten auf. Seine physikalische Variante, nach der der menschliche Körper eine Maschine ist, haben wir im vorherigen Kapitel bereits kennengelernt. Dass Descartes dabei nur den menschlichen Körper, nicht den Menschen überhaupt im Sinn gehabt hatte, geriet bei seinen Kritikern, aber auch bei manchen Anhängern oft in Vergessenheit. Die andere Variante war biologisch orientiert und suchte den Menschen als ein Tier zu begreifen. Radikal durchgeführt, zeitigte dieses Programm allerdings Ergebnisse, mit denen sich nur wenige anzufreunden vermochten. Die Reduktion des Menschen auf eine Maschine oder ein Tier schien ihnen unvereinbar mit dem positiven Ziel zu sein, unter dem die Aufklärung angetreten war: Der Mensch sollte in seiner diesseitigen Existenz aufgewertet werden. So nützlich die Naturwissenschaften als Waffe der Metaphysik- und Religionskritik waren, so unwillkommen waren ihre Rückwirkungen hinsichtlich der Ausarbeitung einer der menschlichen Würde angemessenen Anthropologie. Man wollte keinen zur Erde niedergebeugten, sondern einen zum Himmel aufgerichteten Menschen.
Wir wissen, dass diese Spannung zwischen den ethischen, politischen und anthropologischen Zielen der Aufklärung einerseits und ihren naturalistischen Mitteln andererseits bis heute ein Problem geblieben ist; auch wenn die entsprechenden Debatten nicht mehr um die äußere Gestalt des Menschen und seine Fortbewegungsweise kreisen, sondern auf die Felder der Genetik, der Verhaltensforschung und Neurophysiologie übergegangen sind. Ungeachtet dieser hartnäckigen Persistenz der Spannung zwischen der Sonderstellung, die der Mensch sich gern zuschreibt, und den wissenschaftlichen Befunden, die diese Sonderstellung immer wieder zu untergraben scheinen, lösen sich einzelne Widersprüche bisweilen aber auch durch die Entwicklung der Wissenschaften selbst. – Im 18. Jahrhundert jedenfalls folgte diese Entwicklung nicht der von Tyson und Linné vorgezeichneten Richtung, sondern schlug einen Weg ein, auf dem die Affen den ihnen zugeschriebenen aufrechten Gang wieder einbüßten. So publizierte der Anatom Louis-Jean-Marie Daubenton im Jahre 1764 seine Untersuchungen über die Lokalisation des Hinterhauptsloches bei verschiedenen Tierarten und stellte dabei fest, dass diese Öffnung, durch die das Rückenmark mit dem Gehirn verbunden ist, beim Menschen in der Mitte der Schädelbasis lokalisiert, bei vierfüßigen Tieren, auch bei Affen, hingegen weiter dorsal verschoben ist. Dies war ein starkes Argument für die Natürlichkeit des aufrechten Ganges beim Menschen und gegen den aufrechten Gang bei Affen; entsprechende Beachtung fanden Daubentons Ergebnisse daher in der internationalen Diskussion. [21] Um dieselbe Zeit legte Pieter Camper seine Untersuchungen an einem lebenden Orang-Utan und mehreren in Weingeist konservierten Exemplaren vor, in denen er zu einem Ergebnis gekommen war, das dem von Tyson entgegengesetzt war: Diese Affen sind weder zum aufrechten Gang, noch zur Sprache befähigt. In diese Richtung ging auch die 1775 veröffentlichte Dissertation De generis humani varietate nativa von Johann Friedrich Blumenbach.
Doch Blumenbach gibt dem Streit eine überraschende Wendung. Die menschenähnlichen Affen sind nach seiner Diagnose nämlich weder zwei-, noch vierfüßig zu nennen. Die Hinterfüße dieser Tiere seien mit einem echten Daumen ausgestattet, hätten aber keine Zehen wie der Mensch; sie seien daher zum Greifen eingerichtet und verdienten eher den Namen ‹Hände›. Aufgrund dieses Befundes formuliert er den Vorschlag, diese Tiere nicht als «vierfüßig», sondern als «vierhändig» zu charakterisieren: «Denn da die Hände nicht zum Gehen, sondern zum Greifen eingerichtet sind, so ist an sich klar, daß die Natur diese Thiere bestimmt habe, ihr Leben meist auf den Bäumen hinzubringen. Auf diese klettern sie, und suchen ihren Unterhalt darauf, wo ihnen dann das eine Paar Hände zum Anhalten, das andere zum Abreissen der Früchte und anderen Verrichtungen dient.» (1775: 31) Im Übrigen sei schon an den üblichen Abbildungen zu erkennen, dass die aufrechte Haltung der Affen nur «widernatürlich erzwungen» sein könne, da sie sich mit den vorderen Händen auf einen Stock stützen und mit den hinteren auf eine «nicht paßliche Weise» eine Faust bilden müssten. Das alles lasse nur den Schluss zu, dass allein der Mensch aufrecht stehe
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