Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
dessen Thematik einging. In seinem 1735 erstmals erschienenen Systema naturae legte Linné eine Klassifikation aller drei Reiche der Natur vor, die er in den folgenden elf Auflagen schrittweise erweiterte und präzisierte. Im Hinblick auf das Tierreich ist bemerkenswert, dass er seiner Klassifikation ausschließlich ‹handfeste› anatomische und physiologische Merkmale zugrunde legte und von allen ökologischen und Verhaltensmerkmalen absah. Auf dieser Basis kam er zu einer Einteilung in insgesamt sechs Klassen, deren erste er als «quadrupeda» bezeichnete; sie enthielt, wie der Name erwarten lässt, die vierfüßigen Tiere. An die Spitze dieser Klasse setzte er die Ordnung der «anthropomorpha», unter die er den Menschen, die Affen und die Faultiere subsumierte; von den beiden anderen anthropomorpha sollte sich der Mensch durch seine Selbsterkenntnis unterscheiden. Die Frage nach dem Wesen oder der Natur des Menschen war damit nicht expressis verbis aufgeworfen; auch der aufrechte Gang blieb unerwähnt. Doch schien diese Klassifikation eine bestimmte Antwort zumindest nahezulegen. Wenn der Mensch ohne Federlesen unter die Tiere subsumiert und dort unter die quadrupedia gerechnet wird, scheint ihm auch deren Fortbewegungsweise unterstellt zu werden. Der Mensch ist ein Vierfüßler und geht ‹eigentlich› auf allen Vieren.
Es lässt sich denken, dass diese Darstellung bei etlichen Zeitgenossen auf Unverständnis oder Protest stieß. Linné hielt in den folgenden Auflagen seines Werkes an ihr jedoch grundsätzlich fest [19] und in der Einleitung zu seiner Fauna Svecica verteidigte er sie nachdrücklich, indem er ein Ausschlussverfahren anwandte. Der Mensch sei weder ein Stein noch eine Pflanze, daher müsse er ein Tier sein. Er sei aber auch kein Wurm, kein Insekt, kein Fisch und kein Vogel. Damit hat Linné vier der sechs Klassen aufgezählt, aus denen nach seiner Theorie das Tierreich besteht; die Amphibien erwähnt er nicht, vielleicht weil der Mensch offensichtlich auch zu ihnen nicht gehört. Es bleibt nur noch eine Klasse, unter die der Mensch dann subsumiert werden muss: «Er ist daher ein Quadrupede, hat ein Maul wie die anderen Quadrupeden und schließlich vier Füße: auf zweien von ihnen geht er und er gebraucht die beiden anderen für Zwecke des Greifens. Und um die Wahrheit zu sagen, habe ich als Naturforscher nach den Prinzipien der Wissenschaft bis heute kein Merkmal finden können, durch das der Mensch vom Affen unterschieden werden könnte. Denn es gibt irgendwo Affen, die weniger behaart sind als Menschen, eine aufrechte Haltung haben, wie er auf zwei Füßen gehen und durch den Gebrauch, den sie von ihren Händen und Füßen machen, so sehr an die menschliche Art erinnern, daß die weniger gebildeten Reisenden sie als eine Art von Menschen ausgegeben haben.» (1746: Präf.) An dieser Argumentation ist einiges merkwürdig. Es beginnt damit, dass Linné die Kritik an seiner Klassifikation mit einem Ausschlussverfahren zurückweist, das genau diese Klassifikation voraussetzt. Irritieren muss weiter das Vertrauen auf Gerüchte, nach denen es «irgendwo» Affen geben soll, die aufrecht gehen und ihre Hände ähnlich wie Menschen gebrauchen. Linné war nicht der einzige, der so vertrauensvoll war, wenn es um Absonderlichkeiten in Übersee ging. Wie schon zu Montaignes Zeiten galten die exotischen Länder außerhalb Europas auch im 18. Jahrhundert noch als ein Füllhorn der Kontingenz, in dem vierfüßige Menschen ebenso gut zu Hause sein konnten wie aufrecht gehende Affen. Alles schien möglich! Und wenn alles möglich ist, hat die Zuversicht, im aufrechten Gang verfüge der Mensch über ein Alleinstellungsmerkmal unter den Tieren, keine Basis mehr. Linné kann daher noch einmal bekräftigen, es gebe Affen mit aufrechtem Körper, die ihre vorderen Gliedmaßen ähnlich wie der Mensch benutzen.
Der spannende Punkt kommt aber erst jetzt. In demselben Vorwort zur Fauna Svecica gibt Linné nämlich zu erkennen, dass es ihm gar nicht darum ging, die Differenz zwischen Mensch und Tier zu leugnen oder auch nur zu relativieren. Etliche Zeitgenossen hatten ihm das vorgeworfen. Stattdessen betont er eine Methodenfrage: «Allerdings scheint die Sprache den Menschen von den anderen Tieren zu unterscheiden; aber am Ende ist dies nur eine Art von Kraft oder Ergebnis und kein charakteristisches Kennzeichen, das auf Zahl, Form, Proportion oder Position beruht. So ist es eine Sache der mühsamsten Untersuchung, den
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