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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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trockenen Doppelschlag aus Bedeutungsanalyse und empirischer Prüfung führt. In seiner Epoche hatte sich ein Tableau des Denkens herauszubilden begonnen, in dem bekannte Tatsachen eine neue Bedeutung erlangten. Schon Montaignes Hinweis darauf, dass auch andere Tiere «vollkommen gen Himmel sehen», und dass Kamele und Strauße «einen höheren und geraderen Hals» haben als wir, hatte ja keine neuen Tatsachen mobilisiert, sondern altbekannten ein neues Gewicht beigelegt. Neu war lediglich der Pinguin, den Browne als Kronzeugen anführte.
    Warf also schon der Pinguin [15] einen langen Schatten des Zweifels auf das menschliche Privileg der aufrechten Haltung, so verdunkelte sich die Lage weiter, als im 17. Jahrhundert erste Exemplare der großen, menschenähnlichen Affen nach Europa gelangten. Zwar waren Affen in Europa lange bekannt und sowohl in der antiken als auch in der mittelalterlichen Literatur öfter beschrieben worden. [16] Dabei handelte es sich aber um die am südlichen Rand des Mittelmeeres verbreiteten kleinen und geschwänzten Affen. Die großen Menschenaffen waren demgegenüber bis in die Neuzeit nur aus wenigen, oft phantastischen Reiseberichten bekannt. Im Jahre 1698 erhielt der englische Anatom Edward Tyson nun die Gelegen heit, einen jungen Schimpansen zunächst lebend zu beobachten, später zu sezieren und sein Skelett zu präparieren; es befindet sich noch heute im British Museum. Tyson war an einer genauen anatomischen Beschreibung seines Schimpansen interessiert, vor allem aber an einem systematischen Vergleich mit dem Menschen. Man muss sich klarmachen, dass damals kaum etwas über diese Tiere bekannt war: Weder über ihre Anatomie und Physiologie, noch über ihre Lebensweise, noch über ihre Differenzierung in verschiedene Arten. Tyson bezeichnete seinen Schimpansen als «Orang Outang» und identifizierte ihn mit den in der antiken Literatur als ‹Pygmäe› oder ‹homo sylvestris› auftretenden Wesen. Er war von seiner äußeren wie inneren Ähnlichkeit mit dem Menschen fasziniert, betont in seinem Untersuchungsbericht aber nachdrücklich, dass es sich nicht um eine Abart des Menschen handele, sondern um eine eigenständige Art, die zwischen den bis dahin bekannten Affen und dem Menschen stehe.
    Besondere Aufmerksamkeit widmete Tyson der Körperhaltung und Fortbewegungsart seines Tieres und kam aufgrund seiner Beobachtungen und vor allem seiner Sektionsergebnisse zu dem Schluss, dass es sich um einen Bipeden handeln müsse. In den Tafeln seines Buches wird der Schimpanse daher als aufrecht stehend dargestellt, allerdings (als ob Tyson ein wenig der Mut verlassen hätte) auf einen Stock gestützt. [17] Nun hatte Tyson das Tier niemals aufrecht gehen sehen, als es noch lebte; er führte das darauf zurück, dass sein Exemplar krank und für die aufrechte Haltung bereits zu schwach gewesen sei. Mit dieser Schwäche erklärte er auch die spezifische Form der vierfüßigen Fortbewegungsweise, denn der Schimpanse hatte sich dabei auf die nach innen gekrümmten Knöchel seiner vorderen Gliedmaßen gestützt. Für Tyson war das keine «natürliche Haltung» und kam daher als die reguläre Fortbewegungsweise nicht in Frage. Weiter führt er verschiedene anatomische Merkmale wie das Bauchfell und den Herzbeutel an, die als positive Indizien für eine aufrechte Körperhaltung zu deuten seien. Der Schimpanse, so schließt Tyson, sei von der Natur ‹eigentlich› zum aufrechten Gang bestimmt. [18] – Nach dem Pinguin nun also auch der «Orang Outang»! Wenn die Natur ihn als Zweibeiner «intendiert» hatte, so hieß das: Der aufrechte Gang ist kein Alleinstellungsmerkmal des Menschen. Indem Tyson seinen Affen darüber hinaus noch als sprachfähig ausgab, kassierte er auch noch das zweite empirische Abgrenzungsmerkmal des Menschen vom Tier.

    Abb. 6: Aufrecht am Stock gehender «Pygmäe»
    Tysons Untersuchungsbericht lieferte die bis dahin umfassendste und genaueste anatomische Beschreibung eines Primaten und gehört damit zu den Gründungsdokumenten der vergleichenden Anatomie, die dann zur Modewissenschaft des 18. Jahrhunderts werden sollte. Ihre provokative These wurde zum Ausgangspunkt einer intensiven Debatte, von der hier nur wenige Stationen erwähnt werden können. In zumindest einem Punkt gestützt wurde die These von der einflussreichsten biowissenschaftlichen Autorität dieser Zeit: von Carl von Linné, der Tysons Buch offenbar nicht kannte und in einem ganz anderen Zusammenhang auf

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