Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
genauen Artunterschied des Menschen zu beschreiben. Aber es gibt etwas in uns, das nicht sichtbar ist, auf dem unser Wissen von uns selbst beruht – das ist die Vernunft, das edelste aller Dinge, in dem der Mensch die anderen Tiere in dem erstaunlichsten Maße übertrifft. Niemand kann daher leicht bezweifeln, daß der Mensch ein Tier ist.» Linné leugnet also die Differenz zwischen Mensch und Tier keineswegs; vielmehr bekräftigt er sie mit dem traditionellsten aller Argumente. Doch dieses Argument nimmt auf ein Merkmal Bezug, «das nicht sichtbar ist» und auf das er daher seine Theorie nicht stützen zu können glaubt. Als Klassifikationskriterien kamen für ihn nur direkt feststellbare Eigenschaften wie «Zahl, Form, Proportion oder Position» in Frage; Eigenschaften also, auf die sich das mechanistische Erklärungsprogramm stützte. Was mit ihnen nicht erfasst werden kann, liegt jenseits der Wissenschaft; und damit jenseits dessen, worüber seine Theorie etwas auszusagen in der Lage ist. Unabhängig von dem, was er selbst als offenkundig wahr akzeptiert, habe er «als Naturforscher», der nach den Prinzipien seiner Wissenschaft vorgeht, kein Merkmal finden können, durch das der Mensch vom Affen unterschieden werden kann.
Ungeachtet der außergewöhnlichen Autorität, die Linné unter seinen Zeitgenossen besaß, stieß seine Deutung des Menschen auf Widerspruch von verschiedensten Seiten. Buffon hatte nur Spott dafür übrig, dass Linné Menschen, Affen und Faultiere in derselben Ordnung zusammengewürfelt hatte [20] und lehnte darüber hinaus jede auf äußeren Merkmalen beruhende Klassifikation von Lebewesen als bloß nominal und künstlich ab. Nicht weniger prinzipiell war die Ablehnung Denis Diderots, der in seinen Gedanken zur Interpretation der Natur die allgemeine Tendenz beklagte, einem falschen Weg auch dann weiter zu folgen, wenn er offensichtlich in die Irre führt. Er diagnostiziert diese menschliche Schwäche auch im Bereich des Denkens: «Unter allen Philosophen ist keiner von dieser Sucht so augenscheinlich beherrscht wie der Methodiker. Sobald ein Methodiker in seinem System den Menschen an die Spitze der Quadrupeden gestellt hat, sieht er ihn in der Natur nur noch als ein Tier mit vier Füßen. Vergeblich empört sich die hohe Vernunft, mit der er begabt ist, gegen die Bezeichnung ‹Tier›; vergeblich widerspricht sein Körperbau dem des ‹Quadrupeden›. Umsonst hat die Natur seine Blicke zum Himmel gelenkt: das systematische Vorurteil beugt seinen Körper zur Erde. Das Vorurteil führt ihn dahin, im Ernst anzunehmen, daß der Mensch aus Mangel an Betätigung den Gebrauch seiner Beine verliere, sobald es ihm einfalle, seine Hände in zwei Füße zu verwandeln.» (1754: 453f.) Diderot wirft Linné eine Art von Positivismus avant la lettre vor; eine Auffassung von Wissenschaft, die sich von ihrer eigenen Methode gefangen nehmen und nicht nur das Denken, sondern auch das Sehen verbieten lässt: Der «Methodiker» lasse sich von seiner Methode einen Quadrupe den vorgaukeln, wo ein zweifüßiger Mensch vor ihm stehe. Linnés Unterscheidung zwischen dem, was man mit den Mitteln der Wissenschaft methodisch gesichert behaupten könne, und dem, was man darüber hinaus für wahr halte, akzeptiert Diderot nicht: Linnés Methode sei falsch.
Dass es hier nicht nur um einen Methodenstreit ging, lässt sich bereits aus Diderots Metaphorik erahnen. Das «systematische Vorurteil», hatte er geschrieben, beuge den Körper des Menschen zur Erde, während die Natur seine Blicke «zum Himmel gelenkt» habe. Damit wird ein zweifacher Kontrast gesetzt: Beugen versus Aufrichten und Vorurteil versus Natur. Dass dabei das Beugen dem Vorurteil zugeordnet wird und das Aufrichten der Natur, überrascht nicht. Doch warum holt Diderot so tief aus? – Linnés Klassifikation hatte ihn mit einer Spannung konfrontiert, die dem Programm der Aufklärung und ihrem Bündnis mit den Naturwissenschaften von Beginn an inhärent gewesen war. Angetreten gegen die metaphysische oder religiöse Weltflucht und für die Aufwertung der diesseitigen Welt, schlugen sich viele Vertreter der Aufklärung auf die Seite einer naturalistischen Denkweise, die ihre Effektivität seit dem 17. Jahrhundert eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte. Was im Hinblick auf die unbelebte Natur eine geistige Umwälzung hervorgebracht hatte, sollte jetzt auch für den Menschen fruchtbar gemacht werden: Es ging um eine ‹natürliche› Selbstdeutung des
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