Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
des Menschen war bei seiner Erschaffung bereits beschlossene Sache. Die Ideen knüpfen hier an und führen den entscheidenden Gedanken fort, allerdings ohne direkten Bezug auf die Bibel. An die Stelle des alttestamentlichen Gottes tritt eine spinozistisch inspirierte Gott-Natur; und an die Stelle des «Ratschlusses» aus Gen I,26 ein göttlicher «Plan». In der Vorrede wird beides stark herausgestrichen; wenn auch nicht in Form eines Arguments, sondern einer rhetorischen Frage: «Der Gott, der in der Natur alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet, der darnach das Wesen der Dinge, ihre Gestalt und Verknüpfung, ihren Lauf und ihre Erhaltung eingerichtet hat, so dass vom großen Weltgebäude bis zum Staubkorn, von der Kraft, die Erden und Sonnen hält, bis zum Faden eines Spinnegewebes nur eine Weisheit, Güte und Macht herrschet, Er, der auch im menschlichen Körper und in den Kräften der menschlichen Seele alles so wunderbar und göttlich überdacht hat, dass, wenn wir dem Allein-Weisen nur fernher nachzudenken wagen, wir uns in einem Abgrunde seiner Gedanken verlieren: wie, sprach ich zu mir, dieser Gott sollte in der Bestimmung und Einrichtung unseres Geschlechtes im ganzen von seiner Weisheit und Güte ablassen und hier keinen Plan haben?» (1784: 12) Die Ideen handeln von einer geplanten Natur, in der auf der Basis von «Weisheit, Güte und Macht» alles «geordnet» und «eingerichtet» ist. Gott ist in der Schöpfung ubiquitär präsent (580) und sein «Plan» durchwaltet die gesamte Natur- und Kulturgeschichte. Sofern Herder Spinozist war, sind seinem Spinozismus die antiteleologischen Zähne gezogen.
Ähnlich wie die antiken Vertreter des kosmologischen Denkens traut Herder dem Zufall keine weltbildende Kraft zu; umso weniger die Potenz, eine geordnete Welt hervorzubringen, in deren Mittelpunkt der Mensch steht. Und ähnlich wie diese entscheidet er sich für ‹intelligent design› als Schöpfungsprinzip. In diesem fundamentalen Punkt besteht Kontinuität zwischen der Ältesten Urkunde und den Ideen. Was sich ändert, ist die Einschätzung des aufrechten Ganges. Möglich wurde dessen Neubewertung dadurch, dass er die Körperhaltung vom Ruch der Zufälligkeit befreit; dass er sie von einem kontingenten Faktum zu einer providentiell abgesicherten Scharnierstelle im Lauf der Welt promoviert, an der das Animalische in das Humane umklappt. Der aufrechte Gang firmiert in den Ideen als ein Schachzug der Vorsehung, die den Menschen als jenes privilegierte Wesen hervorbringen will, das Herder in ihm sieht. Hören wir, wie die Erschaffung des Menschen durch die Gott-Natur in den Ideen beschrieben wird! «Als die bildende Mutter ihre Werke vollbracht und alle Formen erschöpft hatte, die auf dieser Erde möglich waren, stand sie still und übersann ihre Werke; und als sie sah, dass bei ihnen allen der Erde noch ihre vornehmste Zierde, ihr Regent und zweiter Schöpfer fehle: siehe, da ging sie mit sich zu Rat, drängte die Gestalten zusammen und formte aus allen ihr Hauptgebilde, die menschliche Schönheit. Mütterlich bot sie ihrem letzten künstlichen Geschöpf die Hand und sprach: ‹Steh auf von der Erde! Dir selbst überlassen, wärest du Tier wie andere Tiere; aber durch meine besondere Huld und Liebe gehe aufrecht und werde der Gott der Tiere!› Lasset uns bei diesem heiligen Kunstwerk, der Wohltat, durch die unser Geschlecht ein Menschengeschlecht ward, mit dankbarem Blick verweilen; mit Verwundrung werden wir sehen, welche neue Organisation von Kräften in der aufrechten Gestalt der Menschheit anfange und wie allein durch sie der Mensch ein Mensch ward.» (105f.) In dieser an Pico della Mirandola erinnernden Schöpfungserzählung ist die Kontingenz durch eine providentielle Entscheidung ersetzt; der Mensch hat sich nicht zufällig aufgerichtet, sondern ist aufrecht erschaffen worden, weil er und seine Zentralstellung in der Welt im Schöpfungsplan von Beginn an vorgesehen waren. In diesem Bild bleibt daher auch kein Raum für eine geschichtliche Entwicklung des aufrechten Ganges, wie Moscati sie suggeriert hatte. Herders entsprechende Moscati-Kritik ist daher konsequent.
Mit diesem Ansatz konnte Herder an der theologisch-philosophischen Grundintention der Ältesten Urkunde festhalten und den aufrechten Gang zugleich in den Rang erheben, der ihm in großen Teilen der zuvor so heftig kritisierten Aufklärungsliteratur zugeschrieben worden war. Die Befunde der zeitgenössischen Naturwissenschaften wurden
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