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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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Sonderstellung des Menschen in der Welt wandte. Herder missbilligt diese Tendenz scharf: «Der Philosophische Geist unseres Jahrhunderts hat am meisten seine Götterkraft bewiesen, daß er sich und sein Geschlecht zum Vieh, ja unters Vieh erniedert …» (234) In einer Fußnote zu diesem Satz wird der Leser über Ross und Reiter genauer informiert: «Es ist, als ob die berühmtesten Genies des Jahrhunderts, Helvetius, Rousseau, Voltaire, Büffon, Maupertuis, nur jeder auf Seine Weise dazu beizutragen hätten, das Menschliche Geschlecht, Metaphysisch, Moralisch und Physisch zu erniedern, bis es vielleicht durch andere Mittel, als selbstsüchtiges Raisonnement ist, edler erhöhet werde!» Es ist, wie wir sehen, die crème de la crème der Aufklärung, gegen die sich Herder hier auflehnt und der er die biblische Schöpfungserzählung entgegenhält.
    Der aufrechte Gang wird in diesem Zusammenhang zunächst nur en passant erwähnt; eine herausragende Bedeutung wird ihm weder zunoch abgesprochen. Größere Aufmerksamkeit widmet ihm Herder erst in dem späteren Teil der Ältesten Urkunde, in dem es nicht mehr um die Schöpfung, sondern um den «Abfall des Menschengeschlechts» geht. Hier kommt er noch einmal auf die Philosophie und Naturwissenschaft seiner Zeit zurück, die den «Abfall des Menschengeschlechts» ja auf ihre Weise zum Thema gemacht hatte: so in Rousseaus Naturzustandstheorie und Moscatis These von der ursprünglichen Vierfüßigkeit des Menschen.
    Herder gießt Hohn und Spott über diese und ähnliche Theorien seiner Zeit aus: «Der erste Zufall (denn Alles in der Welt hängt vom Zufall ab) der diese Schlummernde aufweckte, perfektionierte ihn, d. i. machte das Tier zum Menschen. Und der Zufall (fragt eure Weisen!) konnte kein andrer sein, als daß der Vierfüßige aufrecht gehen lernte. Von dieser kleinen und großen Veränderung (Philosoph und Zergliederer ist einstimmig) hingen alle künftigen Veränderungen ab. Aber wie kam es zu diesem Heldenschritte? dem merkwürdigsten, seit die Erde in der Luft schwebet. Wie alles Große (fragt eure Weisen!) aus Nichts, durch einen Einfall, durch ein Spiel wird: so auch diese Königsrevolution. Er kletterte auf Bäume, sich einen Apfel zu holen, und so lernte er (seht Affen und Bären) Perpendikularstellung. Sein Stiefbruder, der Affe blieb auf halbem Wege; er aber, durch Zufall, oder weil er Einen Grad Perfektibilität, d. i. Gottesbild mehr hatte: triebs weiter und zum Unglück so weit, daß er das glückliche Gehen auf Vieren verlernte. Sogleich wandelte sich alles …» (561) Der Kontrast, den diese Polemik zu den zehn Jahre später publizierten Ideen bildet, scheint größer nicht sein zu können. Alle jene den Menschen konstituierenden Wirkungen, die Herder dann dem aufrechten Gang zuschreibt, waren in der Ältesten Urkunde unbarmherzig ridikülisiert worden.
    Was war zwischen 1774 und 1784 geschehen? Hatte sich Herders Denken in diesem Jahrzehnt grundlegend verändert? Bezüglich des aufrechten Ganges war dies zweifellos der Fall, denn in der Ältesten Urkunde war ihm genau die Bedeutung abgesprochen worden, die ihm in den Ideen zugeschrieben wird. In mindestens zwei anderen Punkten aber bleibt Herders Denken konstant. Der erste betrifft die anthropozentrische Grundthese. Dass der Mensch das Zentrum der Natur bildet, wird in den Ideen nicht weniger energisch vertreten als in der Ältesten Urkunde. In beiden Werken ist diese These das positive Beweisziel seiner Ausführungen und zugleich der Kern der Differenz zu den von ihm kritisierten Theoretikern der Aufklärung, Moscati eingeschlossen. Der zweite Punkt betrifft die Rolle des «Zufalls» in der Welt und bei der Entstehung und Entwicklung des Menschen. Die zuletzt zitierte Polemik aus der Ältesten Urkunde lässt erkennen, dass Herder die philosophischen und naturwissenschaftlichen Theorien seiner Zeit nicht zuletzt deshalb so brüsk zurückweist, weil sie dem Zufall eine konstitutive Rolle für die Entstehung des Menschen zuschreiben und damit die von ihm unterstrichene Zentralstellung des Menschen in der Welt in Frage stellen. Diese Zentralstellung, so glaubt er, kann nicht als Resultat kontingenter Ereignisse begriffen werden, insbesondere nicht als Resultat einer beiläufig angenommenen «Perpendikularstellung» des Menschen. Genau hier besteht für Herder die Überlegenheit der Bibel. Der göttliche Ratschluss, der in der Genesis erwähnt wird, markiert die Gegenposition zum Zufall: Die Zentralstellung

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