Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
jetzt als Einsichten in die kausalen Mittel deutbar, deren die göttliche Providenz sich bedient, um ihre Ziele zu realisieren. Wir erinnern uns daran, dass auch Platon und Aristoteles kausale Faktoren als «Hilfsursachen» in den Rahmen teleologischer Ordnungszusammenhänge gestellt hatten, und dass ihnen viele spätere Autoren darin gefolgt waren. Da die empirische Kenntnis über die Natur und den Menschen im 18. Jahrhundert stark zugenommen hatte, konnte Herder aus einem deutlich erweiterten Fundus naturwissenschaftlicher Erkenntnisse schöpfen. Die Ideen lesen sich passagenweise wie ein Stück ‹naturalistischer› Theoriebildung, in der anatomische Tatsachen und physiologische Mechanismen die gesamte Erklärungslast tragen. Doch wie in den kosmologischen Theorien des klassischen Typus wirken die kausalen Faktoren auch bei Herder immer nur auf der Grundlage und im Rahmen eines providentiellen Masterplans. Und ähnlich wie in den klassischen kosmologischen Theorien changieren Herders Darlegungen beständig zwischen kausalen Erklärungen auf der einen Seite und symbolischen, ästhetischen oder analogischen Argumenten auf der anderen Seite. Ein Beispiel dafür bietet die folgende Stelle, an der es um einen Vergleich zwischen den Gesichtern von Menschen und Tieren geht. Was, so fragt Herder, macht die Gesichter der Tiere «tierisch» und gibt ihnen «diesen entehrenden groben Anblick»? Die Antwort besteht in einem Verweis auf die aufrechte Haltung: «Der hervorgedrückte Kiefer, der zurückgeschobene Kopf. Kurz, die entfernteste Ähnlichkeit mit der Organisation zum vierfüßigen Gange. Sobald der Schwerpunkt verändert wird, auf dem der Menschenschädel mit seiner erhabenen Wölbung ruhet, so scheinet der Kopf am Rücken fest, das Gebiß der Zähne tritt hervor, die Nase breitet sich platt und tierisch … Rücket diesen Punkt anders, und die ganze Formung wird schön und edel. Gedankenreich tritt die Stirn hervor, und der Schädel wölbet sich mit erhabner ruhiger Würde … Und wodurch dies alles? Durch die Formung des Kopfs zur aufrechten Gestalt, durch die innere und äußere Organisation desselben zum perpendikularen Schwerpunkt.» (110) Auffallend ist hier nicht nur das Gewicht, das anatomischen und physiologischen Faktoren zugeschrieben wird, sondern zugleich auch das ausgeprägt evaluative Vokabular, mit dem diese Faktoren beschrieben werden. Eine prinzipielle Differenz zwischen kausalen Erklärungen und analogischen Bezügen, zwischen Beschreibungen und Bewertungen besteht für Herder ebenso wenig wie sie für die Protagonisten der klassischen Kosmologie existiert hatte.
Das durchgängige Changieren zwischen naturalistischer, ästhetischer und symbolischer Darstellungsweise ist natürlich kein Versehen und auch nicht einem literarisch ambitionierten Stilwillen geschuldet, sondern hat seine Wurzeln in dem gewählten konzeptionellen Ansatz. Herders Ideen sollen noch einmal das Bild einer geordneten Welt auferstehen lassen: einer Welt als Kosmos, in deren Zentrum der Mensch steht. In den programmatischen Anfangszeilen des ersten Teils wird dieses Ziel klar zum Ausdruck gebracht: «Vom Himmel muss unsre Philosophie der Geschichte des menschlichen Geschlechts anfangen, wenn sie einigermaßen diesen Namen verdienen soll. Denn da unser Wohnplatz, die Erde, nichts durch sich selbst ist, sondern von himmlischen, durch unser ganzes Weltall sich erstreckenden Kräften ihre Beschaffenheit und Gestalt, ihr Vermögen zur Organisation und Erhaltung der Geschöpfe empfängt, so muss man sie zuvörderst nicht allein und einsam, sondern im Chor der Welten betrachten, unter die sie gesetzt ist.» (17) In dieser harmlos klingenden Eingangspassage ist das kosmologische Theoriedesign offengelegt. Zunächst wird mit dem Ausdruck «Himmel» auf die Gesamtheit einer Welt angespielt, deren Teil die Erde ist. Als «Wohnplatz» des Menschen hängt diese, ebenso wie die auf ihr lebenden Geschöpfe, von den Bezügen zum Großen und Ganzen der Welt ab. Das ist eine Distanzierung von der anthropologischen Theoriebildung seiner Zeit, die sich weitgehend auf den menschlichen Organismus und seine mechanischen oder biologischen Funktionsprinzipien konzentriert hatte. Herder nähert sich dem Menschen nicht als Mechaniker oder ‹Zergliederer›, sondern als Visionär des Ganzen, in dem er steht und lebt. Und dieses Ganze wird dann in einem raschen zweiten Schritt als ein Kosmos identifiziert: als ein «Chor der Welten», in dem sämtliche
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