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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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habe, schreibt er, kein Volk auf der Erde vierfüßig gefunden und es sei nicht zu begreifen, «wie das Menschengeschlecht, wenn es je diese niedrige Lebensweise als Natur gehabt hätte, sich zu einer andern, so zwang-, so kunstvollen, jemals würde erhoben haben … Wäre der Mensch ein vierfüßiges Tier, wäre er’s jahrtausendelang gewesen, er wäre es sicher noch …» (104f.) Jegliche Idee einer Veränderung des Körperbaus und der Fortbewegungsweise des Menschen wird von Herder, der doch gelegentlich als ein Vorläufer und Vorbereiter des Entwicklungsdenkens gehandelt wird, grundsätzlich zurückgewiesen: «Kein Geschöpf, das wir kennen, ist aus seiner ursprünglichen Organisation gegangen und hat sich ihr zuwider eine andere bereitet …» (105) Der Mensch war also von Beginn an aufrecht. Dies hängt nun drittens damit zusammen, dass allein der aufrechte Gang dem Menschen natürlich ist; «ja er ist die Organisation zum ganzen Beruf seiner Gattung und sein unterscheidender Charakter». (104) Beim Menschen sei alles auf die Gestalt, die er jetzt hat, eingerichtet; und nur aus ihr sei er zu erklären. Um zu verstehen, was damit gemeint ist, müssen wir uns der herderschen Konzeption eingehender zuwenden.

20. Ein Versöhnungsversuch
Das Tier ist nur ein gebückter Sklave … Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er steht aufrecht.
J. G. Herder
    In seinen Ideen malt Herder ein grandioses Welt-Panorama, in dessen Mittelpunkt der Mensch steht. Der erste Teil des Buches setzt bei den kosmischen Bezügen der Erde ein, führt durch die anorganische und organische Natur unseres Heimatplaneten, stellt den Körper des Menschen und seine geistigen Fähigkeiten dar, um dann über die Natur hinaus auf das ewige Leben im Jenseits auszugreifen. Die folgenden drei Teile des Buches, die uns hier nicht interessieren werden, geben einen Abriss der gesamten Kulturgeschichte der Menschheit von China über Griechenland und Rom bis zum zeitgenössischen Europa. Der aufrechte Gang spielt in diesem Panorama eine Schlüsselrolle. Er ist für Herder das Merkmal, an dem sich die Sonderstellung des Menschen in der Welt sinnfällig zeigt; der archimedische Punkt, aus dem heraus die Humanität des Menschen vollständig erklärt werden kann und muss. Alle Eigenschaften, die den Menschen vom Tier unterscheiden, entspringen aus ihm. Der Affe ist gebildet, «dass er etwa aufrecht gehen kann, und ist dadurch dem Menschen ähnlicher als seine Brüder; er ist aber nicht ganz dazu gebildet, und dieser Unterschied scheint ihm alles zu rauben». (1784: 109) Es ist der aufrechte Gang, der den Menschen macht.
    Werkbiographisch stellt diese Schlüsselrolle eine große Überraschung dar. In Herders zehn Jahre zuvor erschienener Schrift Älteste Urkunde des Menschengeschlechts hatte sich davon nichts angekündigt, im Gegenteil. In dieser eigenwilligen und ausladenden Deutung der ersten beiden Kapitel der Genesis hatte Herder darzulegen versucht, dass der biblische Schöpfungsbericht eine der gesamten zeitgenössischen Philosophie überlegene Theorie des Menschen enthält. [31] Diese Überlegenheit beruht entscheidend darauf, dass die Genesis den Menschen ausdrücklich als Ebenbild Gottes und als Abbild der Welt, als Mikrokosmos, ausweist (1774: 293) und damit als Mittelpunkt der Schöpfung. Der Mensch wurde ihr zufolge als letztes der göttlichen Werke erschaffen, als Ebenbild Gottes und als Herrscher über alle anderen Geschöpfe. Seine besondere Bedeutung in der Schöpfung wird insbesondere dadurch unterstrichen, dass Gott vor seiner Erschaffung nachdachte. In Gen  I,26 heißt es ja ausdrücklich: «Dann sprach Gott: Laßt uns Menschen machen …». In der Exegese ist dieser Passus oft als Hinweis auf ein Reflektieren und Beschließen Gottes und damit als Beleg für die Sonderstellung des Menschen gedeutet worden; denn über ein solches Reflektieren und Beschließen Gottes berichtet die Bibel nur im Hinblick auf den Menschen. Herder bekräftigt diese Deutung und stellt sie der zeitgenössischen Anthropologie schroff gegenüber: «Vieh und Tier schuf Gott rein weg: ihre Natur und Art wird dem Philosophen daher auch immer einfacher und zergliederlicher scheinen: die Natur des Menschen ist ‹Ratschluß›, und wird’s, Trotz hundert Philosophischer Systeme und Zergliederungen, bleiben.» (236) Das war gegen den Mainstream der Aufklärungsanthropologie gerichtet, die sich teils direkt, teils indirekt gegen die These einer

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