Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Gottes, die Wahrheit der Vernunft, die Verbindlichkeit der Humanität und eben auch die menschliche Natur. «Wenn ihre alten metaphysischen und ontologischen Garantien nicht mehr fraglos gelten, dann werden auch Menschheit und Menschlichkeit moralisch zum Problem. Die formal biologische Gattungseinheit des Menschen mit den verschiedenen Merkmalen des aufrechten Ganges, der entwickelten Hand, der Sprache, Werkzeugerfindung und -benutzung usw. … – sie genügt nicht, um den Menschen dazu anzuhalten, ein Mensch zu sein.» (1937: 43) Die ethische Neutralisierung des aufrechten Ganges erscheint hier als Glied einer langen Kette von Erschütterungen sämtlicher Fundamente der Gewissheit darüber, was der Mensch ist und was er sein soll. – Plessners Resümee stammt aus seiner Groninger Antrittsvorlesung, die er am 30. Januar 1936 gehalten hatte: zu einem Zeitpunkt also, an dem er nicht nur die Fragwürdigkeit aller metaphysischen und ontologischen Garantien vor Augen hatte, sondern darüber hinaus eine ganz unmittelbare Bedrohung. Denn in Deutschland, das er verlassen hatte, übte seit exakt drei Jahren ein Regime die Macht aus, das schon damals Grund genug zur Bestürzung bot, obwohl es die vollen Ausmaße seiner Menschenverachtung noch gar nicht demonstriert hatte. Plessners Vorlesung ist in ihrem gesamten Duktus tief von dieser Bestürzung geprägt und spielt in vielen Details auf die Barbarei in seinem Heimatland an. In einer programmatischen Wendung seiner Überlegungen fordert er eine komplette Revision des anthropologischen Denkens; einen Neuansatz der anthropologischen Theoriebildung, der weder vor den Einsichten der empirischen Wissenschaften, noch vor den ökonomischen, sozialen und politischen Erfahrungen der neueren Zeit die Augen verschließt. «Das Wissen um die Bestreitbarkeit objektiv eindeutiger Kriterien oder Garantien, um die Gefährdetheit und somit um den Wagnischarakter des Begriffes ‹Mensch› soll eine gegenwärtige Philosophische Anthropologie, die im Hinblick auf die Zeit, die Lage der Wissenschaften vom Menschen und die Lage der Philosophie gefordert ist, von allen romantischen und vorromantischen Versuchen unterscheiden. Weil wir heute durch die Erfahrungen der Historie, durch die Kritik der Entwicklungsidee, durch die politische und ideologische Bekämpfbarkeit der humanitas um die Gewagtheit und Rückhaltlosigkeit des ‹Menschen›gedankens wissen, müssen wir das Menschsein in der denkbar größten Fülle an Möglichkeiten, in seiner unbeherrschbaren Vieldeutigkeit und realen Gefährdetheit so zum Ansatz bringen, daß die Gewagtheit eines derartigen Begriffes als Übernahme einer besonderen Verantwortung vor der Geschichte verständlich wird.» (1937: 37) Auffällig ist die Charakterisierung des Menschen in Termini von «Gewagtheit» und «Gefährdetheit»; sie prägt den gesamten Text der Vorlesung. Die Rede ist durchgängig von der «Unsicherheit über den Menschen», von der «Unergründlichkeit des Menschenmöglichen», von der «Mehrdeutigkeit der wirklichen Existenz» oder von der «Bedrohungsfähigkeit nicht nur menschlichen Seins, sondern sogar der Idee des menschlichen Seins durch den Menschen».
In Plessners Antrittsvorlesung verschränken sich Metaphysik und Politik. Das doppelte Krisenbewusstsein, das in ihr zum Ausdruck kommt, erinnert uns daran, dass sich das Nachdenken über den Menschen immer auch unter konkreten politischen und sozialen Rahmenbedingungen vollzieht, von denen seine Resulate nicht unberührt bleiben. Wer und was sie sind, zeigen die Menschen nicht zuletzt in ihrem Handeln, ihr politisches Handeln eingeschlossen. Adolf Hitler hatte sich 1933 angeschickt, anthropologische Möglichkeiten aufzuzeigen, von denen man lieber niemals erfahren hätte. [45] – Plessners Diagnose der «Gefährdetheit», «Unergründlichkeit» und «Mehrdeutigkeit» des Menschen akzentuiert eine Einsicht, die prinzipiell schon lange bekannt, aber selten ernst genug genommen worden war. Pico della Mirandola hatte dem nicht auf eine bestimmte Position in der Welt fixierten, also freien Menschen prophezeit, er könne aufgrund seiner eigenen Entscheidungen «zum Niedrigsten, zum Tierischen entarten», aber auch «zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden». (1496: 7) Die Möglichkeit der ‹Entartung› hatte sich aber vornehmlich auf Individuen bezogen, die ihre naturgegebene Bestimmung verfehlen; und sie hatte im Schatten der möglichen Wiedergeburt gestanden. Als
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