Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Körperstruktur erst aus der Aufrichtung ergeben und wenn diese ein Werk des Menschen selbst ist; dann ist der Mensch an der Entstehung einiger seiner körperlichen Eigenschaften aktiv beteiligt.
23. Postkosmologische Verunsicherung
… wie bekanntlich unser Gehen nur ein stets gehemmtes Fallen ist …
A. Schopenhauer
In die 1861 erschienene zweite Auflage seiner skandalumwitterten Blumen des Bösen nahm Charles Baudelaire einige neue Gedichte auf, unter denen sich eines seiner berühmtesten und meistinterpretierten überhaupt befindet. Es berichtet von einem Rundgang durch Paris, auf dem das lyrische Ich die rasche Veränderung der Stadt registriert: «Das alte Paris ist nicht mehr (die Gestalt einer Stadt wechselt rascher, ach! als das Herz eines Sterblichen)». An einem ebenfalls veränderten Platz erinnert es sich an einen Schwan, den es an einem frostigen Morgen hier einstmals sah:
Einen Schwan, der aus seinem Käfig entwichen war und, mit dem Schwimmfuß das trockene Pflaster scharrend, über den holprigen Boden sein mächtiges Gefieder schleifte. An einem wasserlosen Rinnstein riß das Tier den Schnabel auf
Und badete mit fahriger Gebärde die Fittiche im Staub, und sprach, im Herzen seines schönen Heimatsees gedenkend: «Wasser, wann endlich wirst du niederregnen? wann wirst du donnern, Wetterstrahl?» Ich sehe, wie der Arme, ein unheilvolles Zeichen wunderlicher Sage,
Zum Himmel manchmal, gleich dem Menschen bei Ovid, zum schadenfrohen, grausam blauen Himmel auf zuckendem Halse sein durstgequältes Haupt reckt, als schleudre er Vorwürfe gegen Gott!
Da der erste Teil des Gedichts hier endet, kulminiert er in der Anspielung auf den ovidischen Topos vom Menschen, der aufrecht geschaffen wurde, um in den Himmel schauen zu können. Genauer: Er kulminiert in dem schroffen Gegensatz zwischen dem damit evozierten klassischen Weltbild und der in dem Gedicht beschriebenen modernen Welt. (1) Zunächst fällt auf, dass aus dem klassischen Kosmos, der von ewigen Gesetzen regiert wird, eine moderne Großstadt geworden ist, in der alles einem raschen Wandel unterliegt. Gleichzeitig ist die Welt unwirtlich und schmutzig geworden; es ist von den Straßenkehrern die Rede, die «die stille Luft mit Wirbelstürmen schwärzen» und der Schwan badet im Staub, statt im Wasser zu schwimmen. (2) Die Großstadt ist daher keine Welt, in der er zu Hause ist. Von seinem «schönen Heimatsee» hat ihn das Schicksal in die Gefangenschaft eines Käfigs verschlagen, aus dem er entwichen ist; doch nur um mit seinen zum Schwimmen bestimmten Füßen das trockene Pflaster zu scharren und das Gefieder in einem «wasserlosen Rinnstein» zu baden. (3) Der Schwan, als watschelnder Zweifüßer eine Karikatur des Menschen, wendet in dieser jämmerlichen und verzweifelten Lage seinen Kopf zum Himmel; aber nicht, um ihn zu betrachten und zu bewundern, sondern um ihn hilflos anzuklagen. In diesem Protest liegt eine vollständige Verkehrung des klassischen Motivs. Die Blickrichtung ist gleich geblieben, das Motiv hat sich grundlegend geändert. Der Vergleich mit dem «Menschen bei Ovid» kann daher nur als ironisch verstanden werden. (4) Schließlich bleibt selbst dieser Protest eine leere Geste. Denn der Himmel hat längst aufgehört, der Herkunftsort und das Rückreiseziel des Menschen zu sein. Er ist nicht einmal mehr ein adäquater Adressat von Vorwürfen. Er nimmt den stummen Protest nicht wahr und bleibt «ironique et cruellement bleu». Die Wendung des zuckenden Halses nach oben wird zur als-ob-Geste, wie das «comme» der letzten Zeile ausdrücklich sagt. – Ungeachtet ihrer weiteren Bedeutungsschichten kann diese eindrucksvolle Szene auch als eine metaphorische Darstellung der Stellung des Menschen in der modernen Welt verstanden werden. Der Blick nach oben, in der klassischen Welt das Privileg des Menschen, richtet sich nun auf eine große Leere. Der Himmel ist keine Quelle der Orientierung mehr; er offeriert keinen Sinn, sondern bleibt (im besten Fall) gleichgültig gegenüber dem Menschen, seinem Leben, seinem Schicksal.
Diese Gleichgültigkeit der Welt, ihre stumme Orientierungsverweigerung ist natürlich oft registriert worden. In seinen Reflexionen über Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie hat Helmuth Plessner den Prozess resümiert, in dem eine Instanz nach der anderen fragwürdig geworden ist, die dem menschlichen Selbstverständnis vormals eine sichere normative Grundlage gegeben hatte. Genannt werden das Dasein
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