Der aufrechte Soldat
lahme Inder sind.
Unsere Aufgabe bestand darin, sie gleichzeitig vor den Japanern zu beschützen und sie in Schach zu halten, so daß ihr Platz im Britischen Weltreich erhalten blieb.
»Wenn dies das verdammte Indien ist, dann her mit dem verfluchten Dartmoor!« keuchte Bamber, während wir uns auf dem Bahnsteig drängten und die Bettler abwehrten. Bamber war ein alter Knastbruder, und es war ihm egal, wer davon wußte – ein mürrischer Mann, des sen Gefängnisaufenthalt ihm im Gewimmel der A-Kompanie gewisse Vorteile verschaffte.
»Halt uns ’nen Platz frei, Stubby!« rief mein Kumpel Wally Page – ebenso wie ich bediente er ein Funkgerät –, während wir uns bemühten, in die Holzwaggons hineinzukommen, und dabei gegen Lastenträger und andere Soldaten kämpften.
»Haltet eure Gewehre fest!« brüllte Charley Meadows. »Tretet ihnen auf die Finger, wenn sie euch zu nahe kommen!« Der Sergeant wußte schon Bescheid. Er war auch in Friedenszeiten schon im Land gewesen und wuß te, wo es lang ging.
Weder Wally noch ich konnten uns einen Sitzplatz ergattern. Jedes der kleinen Abteile war bis zum Dach vollgestopft mit Männern und Feldgepäck. Da war es dort, wo wir saßen, schon besser, nämlich auf unserem Gepäck im Korridor. Wir ließen uns auf unsere Seesäcke fallen, nach Luft schnappend und uns die geröteten Gesichter abreibend. Eine Stunde hockten wir da, ehe der Zug endlich losfuhr. Während dieser ganzen Zeit wurden wir von den Lastträgern und anderen Bettlern belagert. Die schlimmsten Mißbildungen wurden uns dargeboten: ein Kind, dessen beide Arme an den Ellbogen abgetrennt waren, zitternde Bettler mit fremdartigen Krankheiten, Männer, die mit leeren, verkrusteten Augenhöhlen zum Himmel starrten, skelettartige Frauen mit fötusgroßen Kindern an der Brust, Vogelscheuchen mit verkrüppelten, fleckigen Gliedmaßen, deformierte Gesichter, Alptraumleiber.
»Haut ab! Jao! Jao, ihr Bastarde, jao!« fluchten wir. Wir hatten bereits unser erstes und wichtigstes Wort in Urdu gelernt.
»Das ist das reinste Irrenhaus!« stellte Geordie fest. »Also ehrlich, ich meine, ich hatte keine Ahnung, daß es überhaupt Orte wie dieses Dreckloch gibt.« Er stand mit Wally Page und mir eingekeilt im Korridor. Uns war damals noch nicht klar, wie selten Korridore in indischen Zügen sind. Als Geordie seine Zigaretten hervorholte, reckten sich ein Dutzend braune Hände durch das Fenster nach dem Päckchen. Geordie warf zwei Stäbchen aus dem Fenster und brüllte, daß alle verschwinden sollten. Dann zündeten wir uns die Zigaretten an. Geordie war ein magerer und unbeholfener Knabe, bis er Fußball spielte – wo er häufig neben mir auf der halbrechten Position spielte –, wobei er eine seltsame Art von Eleganz entwickelte und sein Adamsapfel hektisch auf und nieder hüpfte. Im Augenblick konnte ich fast hören, wie sein Gehirn sich abmühte, die Eindrücke Indiens zu verarbeiten.
Geordie hatte ein scharfgeschnittenes Gesicht, und die meisten seiner Zähne waren ihm im Alter von sechzehn Jahren gezogen worden. Wally hatte ein fleischiges Gesicht, einen dicken Hals und einen Körper wie ein junger Bulle. Dieser Bullenkörper war mit gelben Haaren bedeckt: Das Haarkleid hüllte Wally vom Schädel bis zu den Füßen ein, als sei er kurz in Rührei getaucht worden. Er hatte die Gewohnheit, seine Rede, wenn er sich mit Freunden unterhielt, mit kurzen Boxhieben auf die Oberarme seines jeweiligen Gegenübers zu unterstreichen, als wolle er damit dessen Liebenswürdigkeit testen.
»Wir haben hier den richtigen Haufen beieinander!« rief Geordie. »Man würde doch erwarten, daß das Ganze hier ein wenig geordneter abläuft. Warum rufen sie denn nicht den verdammten Hauptfeldwebel, um den Pöbel vom Bahnsteig zu verjagen?«
»Er rennt an dem Zug auf und ab wie ein altes Weib.« Diese Beobachtung stimmte nicht ganz, obgleich Hauptfeldwebel Payne vermutlich von einem Ende des Bahnsteigs zum anderen marschierte und furchteinflößende Befehle brüllte. »Er weiß nicht, ob sein Arschloch ge drillt, ausgebohrt oder ausgefräst ist«, fügte Wally hinzu.
Nach weiteren Verzögerungen und weiterem Herumparadieren Paynes rollte der Zug an dem Bahnsteig entlang und der Freiheit entgegen. Es war Spätnachmittag. Ein Querschnitt dieser seltsamen Welt glitt an uns vorbei. Teeverkäufer mit Kannen auf ihren Köpfen, andere Verkäufer mit weichen Hörnchen, vertrocknetem Obst und alten Ausgaben von »Lilliput« und »Coronet«, die
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