Der Aufstand Auf Dem Jahrmarkt
eine harmlose Frage über die Lippen zu zwingen, aber er kam ihr zuvor.
»Wo ist er? Gib ihn freiwillig heraus, und es wird dir nichts geschehen. Ich würde es dir raten.«
Er hatte es nicht eilig und lächelte noch immer. Sie sah jetzt, daß sein Lächeln eine vorsätzliche Politur war, so kalt, glatt und dekorativ wie eine Vergoldung. Mit großen Augen sah sie ihn an, den verwirrten, erstaunten Blick eines Menschen, der sich plötzlich in einer unbekannten Sprache angeredet hört. »Ich verstehe Euch nicht! Was soll ich Euch geben?«
»Liebes Mädchen, du weißt es nur zu gut. Ich will den Brief, den dein Onkel zu Graf Ranulf von Chester bringen sollte, denselben Brief, den er nach vorheriger Übereinkunft auf dem Jahrmarkt Euan von Shotwick hätte aushändigen sollen, dem Vertrauensmann meines edlen Verwandten.« Er war bereit, sanft mit ihr umzugehen, und da Zeit jetzt kein entscheidender Faktor mehr war, fand er die Sache sogar erheiternd und konnte ihr Spiel bewundern, vorausgesetzt, er bekäme schließlich seinen Willen. »Erzähl mir nicht, süßes Kind, du hättest von keinem derartigen Brief gehört. Ich bezweifle, daß du eine so gute Lügnerin abgeben könntest.«
»Wahrhaftig«, sagte sie und schüttelte hilflos den Kopf, »ich verstehe Euch ganz und gar nicht. Ich könnte Euch nichts anderes sagen, weil ich nichts von einem Brief weiß. Wenn mein Onkel einen bei sich trug, wie Ihr behauptet, hat er es mir nicht anvertraut. Glaubt Ihr, ein Kaufmann würde seine junge Nichte wegen wichtiger Angelegenheiten ins Vertrauen ziehen? Ihr kennt ihn schlecht, wenn Ihr das glaubt.«
Corbiere trat ein paar Schritte näher, und sie bemerkte, daß von seinem Hinken keine Spur geblieben war. Das Kohlenbecken verbreitete eine gleichmäßige, scharlachrote Glut, deren Widerschein wie der Glanz des Sonnenuntergangs auf den goldblonden Locken seines Haares lag. »Das dachte ich auch«, pflichtete er ihr bei und lachte bei der Erinnerung. »Es kostete mich eine lange Zeit, eine allzu lange Zeit, um zu dir zu gelangen, meine Liebe. Ich würde einer Frau nicht vertraut haben, nein... Aber Meister Thomas, wie es scheint, hatte andere Vorstellungen.
Und ich gebe gern zu, er hatte es mit einer ungewöhnlichen jungen Frau zu tun. Soweit es der Mühe wert ist, bewundere ich dich. Aber ich werde mich dadurch nicht hindern lassen, zu tun, was ich tun muß, das darfst du mir glauben. Was du hast, ist zu kostbar, als daß es in mir irgendwelche Skrupel wecken könnte, selbst wenn ich zu solchen Schwächen neigte.«
»Aber ich habe keinen Brief! Ich kann Euch nicht geben, was sich nicht in meinem Besitz befindet. Wie kann ich Euch überzeugen?« fragte sie mit einem ersten Aufflammen von Ungeduld und Empörung, obwohl sie im voraus wußte, daß alle Vorspiegelungen umsonst waren. Er wußte Bescheid.
Lächelnd schüttelte er den Kopf. »Der Brief ist nicht in deinem Gepäck. Wir haben sogar die Nähte deiner Satteltaschen aufgeschnitten. Darum ist er hier, an deiner Person. Es gibt keine andere Möglichkeit. Er war nicht an der Person deines Onkels, er war weder in seiner Barke noch in seinem Marktstand. Welche Möglichkeit blieb übrig? Du und Euan von Shotwick, wenn es einem Boten irgendwie gelungen wäre, durch meine Bewachung zu schlüpfen. Du, das wußte ich, würdest ihn bewahren - nur einmal trug ich plötzlich Bedenken und dachte, daß du den Brief zur Sicherheit in den Sarg deines Onkels gesteckt haben könntest, aber das hieß dich überschätzen, mein Liebes, so schlau wie du bist. Und in Euans Besitz gelangte der Brief nicht. Wer blieb dann übrig, wenn nicht du?
Nicht seine Knechte - alle von ihnen sind bei weitem zu einfältig und deinem Onkel nur in dem Maße ergeben, wie es sich für Knechte geziemt. Selbst wenn er nicht Anweisung gehabt hätte, auf strikte Geheimhaltung zu achten, wie ich aus sicherer Quelle weiß, würde er nicht einmal dir erzählt haben, was in dem Brief steht.«
Das traf zu. Emma hatte keine Ahnung vom Inhalt des Schreibens.
Sie hatte ihn einfach bekommen, damit sie ihn immer bei sich trüge und gut bewachte, denn sie war die offensichtlich Unschuldige, die niemals in den Verdacht geraten würde, jemandes Kurier zu sein.
Aber die Bedeutung des ihr anvertrauten Gutes war ihr auf das Eindringlichste nahegelegt worden. Menschenleben, so hatte ihr Onkel gesagt, hingen von seiner sicheren Zustellung ab, oder, sollte dies nicht möglich sein, von seiner sicheren Rückgabe an den Absender.
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