Der Aufstand
der vorletzten Reihe geleiteten, von der sie auf die breite Bühne hinabblicken konnte. Sie hatte eindeutig das Gefühl, ausgegrenzt zu werden. Ihre beiden Gorillas setzten sich demonstrativ hinter sie, und zwar zwei Plätze voneinander entfernt, als glaubten sie, dadurch noch einschüchternder zu wirken.
So blieb ihr nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie der Konferenzsaal sich füllte. Sie spürte die wachsende Anspannung der Versammelten, als die Eröffnung der Konferenz näherrückte, doch die Atmosphäre schien von Niedergeschlagenheit geprägt. Viele Gesichter wirkten äußerst besorgt. Einige der Gespräche in den Sitzreihen und Gängen klangen eher wie Streitereien. Gabriel Stone hatte mit seinen Anschlägen alle zutiefst verunsichert.
Das Stimmengewirr verebbte abrupt bei den ersten Anzeichen von Bewegung auf der Bühne, als nacheinander unter donnerndem Applaus die Würdenträger hinter dem Vorhang hervorkamen und auf das lange, gerundete Podium traten. Alex hatte sie nie persönlich kennengelernt, kannte aber wie jeder andere anwesende Vampir die Namen derer, die nun auf den großen Bildschirmen neben der Bühne erschienen. Hassan. Borowczyk. Korentayer. Goldmund. Mushkavanhu. Hinter ihnen folgte die rundliche Gestalt der Nummer zwei des Herrscherrats, Gaston Lerouge. Sie nahmen ihre Plätze ein, drei auf jeder Seite. Der siebte, mittlere Sitz blieb leer, bis unter noch stärkerem Applaus und Hochrufen Olympia Angelopolis hinter dem Vorhang hervortrat. In einem fließenden weißen Kleid fegte sie mit ihrem silbergrauen Haar über die Bühne. Die gebieterischen, ernsten Züge der Vampirin füllten die Monitore über der Bühne aus. Gnädig nahm sie ihren würdigen Empfang entgegen, bis sie schließlich eine Hand hob und der Applaus verstummte.
Und dann ergriff die große Olympia Angelopolis das Wort.
[zur Inhaltsübersicht]
Kapitel 71
I m Namen meiner Vorstandskollegen danke ich Ihnen allen, dass Sie heute hier erschienen sind. Lassen Sie uns zunächst mit einer Schweigeminute des Hinscheidens von Vorstandsmitglied Teshigahara, Ratsmitglied Sen sowie der übrigen Opfer der jüngsten Gräueltaten gegen unseren großen Verband gedenken.»
Aus dem Publikum erhob sich leises zustimmendes Gemurmel, bevor wieder ehrerbietige Stille eintrat. Olympia und die anderen Vorstände senkten feierlich den Kopf. Oben auf den Großbildschirmen war zu sehen, wie sich Gaston Lerouge eine Träne wegwischte, obwohl jeder im Raum wusste, dass Vampire nicht weinen konnten. Nach exakt neunundfünfzig Sekunden hob Olympia abrupt den Kopf und beendete das Schweigen. «Ich danke Ihnen. Fangen wir an.»
Was mache ich hier eigentlich?
, dachte Alex. Sie hätte jetzt auf der Suche nach Joel sein können, statt ihre Zeit damit zu vergeuden, sich das alles anzuhören. Sie rutschte tiefer in ihren Sitz, legte die Füße auf die Rückenlehne der Reihe vor ihr und verschränkte die Arme. Sie spürte, wie sich von hinten die Blicke von Verspoor und Bates in sie bohrten.
Gleich von Beginn an lief alles genau in die Richtung, die sie erwartet hatte. Gaston Lerouge ergriff das Wort und brachte den größten Teil der ersten Stunde damit zu, mit einer leidenschaftlichen Darstellung der Anschläge gegen den Verband den Zorn seiner Zuhörer zu schüren – Akte der Gewalt, deren Anstifter er als Aufrührer und Terroristen bezeichnete. Nachdem er die Gefühle im Raum ausreichend aufgepeitscht hatte, wechselte Lerouge meisterhaft die Gangart, um sich ausführlich über die lange Geschichte des Verbands auszulassen: über den Kampf um Recht und Ordnung in den frühen Tagen; die ersten Erfolge und bitteren Rückschläge; und schließlich die heroischen Anstrengungen geschätzter Kollegen wie der Vampirin persönlich, ihrer zuvor zerstrittenen, gespaltenen und stark gefährdeten Spezies Frieden und Harmonie zu bringen. Sollten nun die Opfer der Gründer vergeblich gewesen sein?
Nein!
, brüllte das Publikum wie mit einer Stimme. Sollte der Verband, dieser Inbegriff von Demokratie, Gerechtigkeit und Allgemeinwohl, von üblem Gesindel gestürzt werden?
Nein!
Sichtlich bewegt übergab Lerouge seinen Kollegen das Wort. Die nächste Stunde verbrachte man damit, dem Publikum zu versichern, dass die Aufständischen für den Verband keine ernsthafte Bedrohung darstellten. Dank des heldenhaften Einsatzes der VIA und ihres weltweiten Netzwerks von Agenten würde die Situation in spätestens sechs Monaten wieder vollständig unter Kontrolle sein und
Weitere Kostenlose Bücher