Der Aufstand
weiteren Schritt auf sie zu. «Willst du wirklich, dass ich diesen Behälter öffne?»
Kate zuckte heftig zurück, fiel rückwärts auf den Boden und stieß ein gequältes Stöhnen aus.
«Wo ist er, Kate? Sag es mir.»
«Er ist weg», sagte sie. «Weit weg von hier.»
An der Wand rechts von Joel stand ein Regal mit zerlesenen Büchern über Autos, Motorsport-Zeitschriften, Reparaturanleitungen sowie ein paar zerschlissenen Science-Fiction-Titeln – und ein Weltatlas. Er wirkte fast wie neu und schien in Matts Büchersammlung irgendwie deplatziert – wie ein ungewolltes Geschenk. Den Behälter noch immer fest in der Hand, zog Joel den Atlas heraus und schlug ihn auf. Er blätterte ein paar Seiten um, bis er eine doppelseitige Europakarte gefunden hatte, und legte ihn flach auf den Boden. Dann schob er das Buch über den Teppich vor Kates Nase. «Du zeigst mir jetzt, wo er hin ist, und ich verspreche dir die Freiheit.»
«Zeig es ihm, Kate», stöhnte Dec leise von der Couch her.
«Niemals!», zischte sie.
«Glaubst du vielleicht, du bedeutest ihm etwas?», schrie Joel sie an. «Er ist weg. Er hat nur mit dir gespielt. Du bist ihm dafür keinerlei Loyalität schuldig.»
Kate schwieg jetzt. Sie wusste genau, dass sie keine Wahl hatte, wenn sie nicht grausam sterben wollte. Ihre Eckzähne hatten sich wieder eingezogen, und abgesehen von ihrem wilden Haar und dem Blut an Kinn und Händen wirkte sie wieder wie ein ganz normales Mädchen. Joel musste an Alex denken, und seine Kehle schnürte sich so fest zusammen, dass er am liebsten laut aufgeschrien hätte.
«Kannst du es tun?», fragte er sie.
«Schenken Sie mir dann die Freiheit?»
«Ich halte meine Versprechen.»
Langsam und widerwillig setzte Kate sich auf und schloss die Augen. Das Kinn sank ihr auf die Brust. Sie begann, sich sanft vor und zurück zu wiegen, so, als fiele sie in eine Art Trance. In der Totenstille, die nun im Raum herrschte, konnte Joel seinen eigenen Herzschlag hören.
Kate hielt eine Hand über die Karte und streckte ihren blutigen Zeigefinger aus. Er schwebte unschlüssig über den Seiten, bewegte sich vor und zurück, und einen Augenblick lang war sich Joel sicher, dass seine Idee tatsächlich verrückt gewesen war. Dann aber schien das Mädchen sich zu konzentrieren, und ihr Finger landete auf England und hinterließ einen roten Abdruck auf dem Papier.
«Er reist», murmelte sie. Joel sah schnelle, zuckende Bewegungen hinter der blassen Haut ihrer geschlossenen Lider. Dann – ganz langsam, wie sich ein Zeiger bei einer Séance von selbst über ein Ouija-Brett bewegt – strich ihr Finger über die Weltkarte und zeichnete eine gezackte rote Linie von West nach Ost. Von einer morbiden Faszination erfasst, schaute Joel zu, wie die Linie die Niederlande berührte, bevor sie sich durch Deutschland, die Tschechische Republik und Ungarn fortsetzte. Danach zog sie sich nur noch ein Stückchen weiter, bevor Kates Zeigefinger zitternd zum Stillstand kam. Ihre Hand erschlaffte, und sie ließ sich unter unverständlichem Gemurmel wieder auf den Teppich sinken.
Joel nahm den Atlas und starrte auf den Punkt, wo die Linie trocknenden Blutes endete. Sie führte in südöstlicher Richtung quer durch Europa bis in den Norden Rumäniens, wo sie mitten in den Karpaten endete.
«Du hast gerade etwas gesagt. Ein Wort. Was war das? Kate?» Um ein Haar hätte er sich vergessen und das Mädchen geschüttelt, als er plötzlich seine Hand zurückzog und wieder auf den Deckel des Behälters legte, damit er diesen jederzeit aufreißen konnte.
Flatternd öffneten sich ihre Augen, und sie murmelte das Wort noch einmal, diesmal aber verständlicher.
«Vâlcanul.»
Der Akzent, mit dem sie das Wort aussprach, ließ es Joel eiskalt den Rücken herunterlaufen. Das hatte sie nicht auf der Schule gelernt. Es schien von einem anderen Ort zu kommen, als würde das Wort durch sie geschleust. Nun wusste er, dass er recht gehabt hatte. Er zog sich von ihr zurück, schloss den Atlas und warf ihn auf einen Stuhl.
«Sie haben versprochen, ihr die Freiheit zu schenken», krächzte Dec von der Couch aus.
«Und genau so habe ich es auch gemeint», erwiderte Joel.
Er starrte hinab auf das Mädchen auf dem Boden, und sie blickte flehend zu ihm auf. Plötzlich sah er sich einem normalen, hübschen, siebzehnjährigen Mädchen mit rotem Haar und intelligenten blauen Augen gegenüber, das sein ganzes Leben noch vor sich hatte.
Aber sie war kein solches Mädchen.
Er
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